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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Wolfram hob müde die Hände.
    »Tut, was ihr tun müßt!« sagte er. »Aber denkt daran, wie schwer es ist, hungrig und durstig die Stufen zu erklimmen. Sie sind viel höher als ihr. Wie viele könnt ihr schaffen an einem Tag? Vierzig vielleicht oder fünfzig. Und in den Tagen danach? Was wollt ihr tun, wenn zwei oder drei Stufen eingebrochen sind? Wenn giftiger Regen durch Mauerritzen peitscht oder wenn ihr doch noch auf die großen Tiere aus dem Reich der Weltlichen trefft.«
    Er hustete erneut.
    Guntram bückte sich. Er griff in den Kasten, in dem der Schlüssel zur Vorratskammer aufbewahrt wurde. Nach jeder Flucht waren die Schlüssel und Schlösser verkleinert worden.
    »Ich hole euch den Wein der Letzten Gnade«, sagte er. »Aber nur, wenn ihr mich und Agnes gehen laßt ...«
    »Jetzt phantasiert er schon vor Hunger«, schimpfte Mathilda.
    »Das Gift des Regens hat ihren Geist verwirrt«, murmelte Hanns eilfertig. Er hatte stets unter dem Einfluß Mathildas gestanden.
    » ... zerfressen sind die Seelen!«
    » ... weil sie das Gesetz nicht achten!«
    »Verbannt sie!«
    Das Murren der Familienmitglieder wurde immer lauter.
    »Ketzerei ...«
    »Verrat ...«
    »Wir trinken alle oder gar nicht!«
    Ein kalter Lufthauch strich durch die Gruft.
    Guntram schätzte ab, wie weit es bis zu den Leitern war, die die Ebenen der Bohlentische miteinander verbanden. Wenn er den Wein der Letzten Gnade holen mußte, brauchte er die Flaschenzüge an den Tischkanten. Die Flasche mit dem Schierlingswein war viel größer als er und die anderen Familienmitglieder.
    Agnes flüsterte ihm etwas ins Ohr. Guntram schüttelte den Kopf.
    »Nein, das kann ich nicht sagen!«
    »Warum nicht?« fragte sie ebenso leise zurück. »Vielleicht ist das die letzte Chance für uns! Du mußt es sagen!«
    Guntram sah dem alten Clan-Chef fest in die Augen. Meister Wolfram war plötzlich wieder hellwach.
    »Was tuschelt ihr?«
    »Ich ... ich weiß, daß wir noch eine Hoffnung haben dürfen«, sagte Guntram verlegen. Er wurde plötzlich rot. Agnes drückte seine Hand.
    »Ha!«
    Mathilda drängte sich vor. Sie hob den Kopf, dann spuckte sie vor Agnes und Guntram auf den Bohlentisch, an dem Meister Wolfram saß.
    »Mathilda!« Hanns berührte ihre Schulter.
    »Laß mich! Ich habe ihn beobachtet: morgens, wenn er bereits beim zweiten Hahnenschrei heimlich aus dem Hause schlich. Mittags, wenn er am See vorbei zum Irrlichtmoor geschlendert ist, um sich unterhalb der Felder mit seiner Schwester zu treffen, die auch nicht besser ist! Und manchmal sogar abends, wenn die Kerzen brannten und anständige Dorfbewohner beteten und in der Schrift gelesen haben ...«
    Guntram trat einen Schritt vor.
    »Ja, es ist wahr! Aber wie kann Tante Mathilda das alles wissen, wenn sie sich selbst an die Gesetze gehalten hat?«
    Für einen Augenblick glaubte er, ein beinahe gütiges, verstehendes Lächeln im Gesicht von Meister Wolfram zu sehen.
    »Sie haben Satanszeug in ihrem Alkoven!« fauchte Mathilda. »Eine Götzenpuppe und ein Rohr, durch das alles größer wird, wenn man hindurchsieht ...«
    Mit einem schwirrenden Geräusch fuhr ein kleiner, schmaler Dolch in die Tischplatte vor Guntram und Meister Wolfram. Mathildas Mann hatte ihn geworfen.
    »Gott schütze uns vor Veitstanz und Verblendung!«
    »In nomine Sanctae & individue Trinitatis!« antwortete der dumpfe Chor der Familienmitglieder.
    Vier weitere Dolche stachen in das Holz des Tisches.
    *
    Ein kalter Frühlingswind jaulte durch zerstörte Fensterscheiben. Er bauschte halbverschmorte Gardinen auf und ließ verbrannte Kartonreste über mumienhaft in ihren Arbeitssesseln hängende Leichname regnen.
    Die Toten sahen aus, als wären sie allesamt gleichzeitig in einem szenarischen Schnappschuß versteinert worden.
    An der Seitenwand eines tiefer gelegenen, niedrigen Raumes, in dem sich vier Reihen hüfthoher, meterbreiter Kästen mit flachen Schubladen befanden, klaffte ein unsauber ausgebrochener Spalt. Ganz unten lag wie ein totes Tier ein steinernes Fabelwesen auf einem Haufen Mauertrümmer. Der Wasserspeier mußte irgendwo von einem Turm der nahen Kathedrale gestürzt sein ...
    Als die Morgensonne fahl über der leeren Stadt aufging, ließ der Sturm nach. Zum erstenmal nach vielen Tagen wurde der rötliche Smog zwischen den Häusern durchsichtiger.
    Die Stadt wirkte nicht wirklich zerstört. Bis auf einen Kreis ausgebrannter Ruinen um die Trümmerberge des ehemaligen neuen Zentrums schien alles ganz normal zu sein. Es
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