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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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fiel kaum auf, daß in der restaurierten Altstadt um die Kathedrale die Fensterscheiben fehlten.
    Alles schien so, als würden die leeren Straßen nur darauf warten, daß wieder Menschen aus den Häusern kämen. Die Ampeln schalteten von Rot auf Gelb, auf Grün. Erst jetzt wurde deutlich, daß nirgendwo Autos oder andere Fahrzeuge zu sehen waren. Nur tief unter den Fundamenten rumpelte es ab und zu.
    Als die Zeiger der Analoguhren, für deren Erhaltung der Landeskonservator noch kurz vor der Katastrophe einen Orden am Band erhalten hatte, als diese Zeiger überall in der Stadt auf 9.56 Uhr rückten, begannen in einigen Kirchen und Kapellen die Glocken zu läuten. Obwohl der einundvierzigste Tag nach der Katastrophennacht ein Dienstag war, riefen sie wie an einem stillen Sonntag zur Messe. Aber die Menschen kamen nicht mehr ...
    Erst als die Sonne den Zenit erreichte, entstand eine nicht zufällige Bewegung in einem der schweigenden Häuser. Im altehrwürdigen Verlag von J. Samuel Bruhns polterten plötzlich fünf schwere Setzkästen mit Tausenden von säuberlich sortierten Bleibuchstaben auf den mit rötlichem Staub bedeckten Zementfußboden. Für einige Minuten blieb alles ruhig. Der aufgewirbelte Staub senkte sich wieder, dann tastete vorsichtig ein schmutziggelber Handschuh an den Kanten des Regals für die Setzkästen entlang.
    Dem Handschuh folgte ein Arm ... eine Schulter ... ein Kopf. Die lebende Totenmaske sah nicht mehr menschlich aus. Sie war nur noch eine mumienhafte, verschorfte und verschmutzte Karikatur eines menschlichen Wesens.
    Der Überlebende hatte keine Augenbrauen mehr. Sein verbrannter Kopf wirkte wie eine entzündete Wüstenlandschaft mit eiternden Inselhöckern und schwarzen Schründen in der Haut. Er atmete mit verzerrt aufgerissenem Mund und trocken hechelnden Geräuschen. Eingemummt in Gummischürzen, Handschuhe, Papierbahnen, Fußlappen und Bindfäden, mit denen er alles um seinen Körper geschnürt hatte, kroch der Überlebende langsam und immer wieder kraftlos rastend bis ins Licht der Sonne.
    Halbblind nach den endlosen Stunden unter dem Blei ließ er die heilende Wärme auf sich einwirken. Von Zeit zu Zeit regten sich halbe Gedanken in seinem Hirn. Sie schossen wie schnell zerplatzende Atombausteine in einer Blasenkammer über die Schwelle seines Unterbewußtseins: Informationen ohne Zusammenhang und Bruchstücke von Erinnerungen ...
    Keller unter dem Blei ... schöne Schrift suchen ... Gedicht für Luise , Gräfin Finck von Finckenstein ... grinsende Redakteure ... Ausnahmezustand ... Raketenschwärme ... Liebe macht blind ... Väter mit ernsten Gesichtern ... Präsidentengesichter ... Bildschirme ... Adelskalender auf kostbarem Papier ... Generationen ... die 3. Generation der Neutronenbombe ... Blitz ... Hunger ... Durst ...
    Das leise Gurren einer Taube ließ die Finger in seinen Handschuhen zucken. Er blinzelte ins Sonnenlicht. Zuerst sah er sie nicht, doch dann entdeckte er den winzigen Vogel auf dem Kopf des steinernen Wasserspeiers.
    Er war noch kleiner als ein Kolibri!
    Sein linker Arm bewegte sich langsam durch den Staub. Die Taube wollte auffliegen. Er sah, wie graue Federn von ihren Flügeln abfielen. Mit einem letzten, kläglichen Gurren kippte die Zwerg-Taube zur Seite, tot.
    Der Überlebende stöhnte auf. Eine Welle von verwirrten, unkoordinierten Gefühlen strömte durch seinen Körper. Wie Fieberkranke, die aus dem Angebot aus Wahrnehmungen, Erinnerungen und Empfindungen nur Bruchstücke vergrößert sehen, kreiste alles in ihm um das Ende der Zwerg-Taube.
    Schon einmal hatte ein unverständlicher Tod sein Leben verändert. Es war schon lange her, aber das erste, was er bewußt miterlebt hatte, war auch in späteren Jahren ein wehmütiger Schatten geblieben ...
    *
    Seine Erinnerung begann an einem Sommertag des Jahres 1995. Damals war er knapp zwei Jahre alt gewesen. Er sah ganz deutlich schwitzende braune und schwarze Pferde mit Reitern, die alle rote Jacken trugen. Vom Ställchen auf dem Balkon des Hauses, in dem seine Eltern damals wohnten, erkannte er seine Mutter auf einem der ersten Pferde. Ihr blondes, straff zurückgekämmtes und im Nacken zu einem lockeren Knoten gebundenes Haar glänzte wie Gold im Sonnenlicht.
    Die Pferde schnaubten nach der langen Jagd. Während immer mehr Reiter auf dem Hof des Gutes eintrafen, bereiteten Dienstboten in blausilberner Livree Wildschweine am Spieß, Salate und Cocktails vor. Hifthörner bliesen das Ende der Schleppjagd. Die
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