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Das Raetsel von Flatey

Das Raetsel von Flatey

Titel: Das Raetsel von Flatey
Autoren: Viktor Arnar Ingólfsson
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Heimathafen vertäut
werden.   
      
    An den anderen Tagen der Woche war an
der Mole in Brjánslækur nicht viel los. An diesem
Donnerstag trug es sich aber zu, dass ein unbekannter junger Mann
auf dem Kai stand und beobachtete, wie sich von weit im Süden
ein offenes Motorboot näherte. Der Mann trug einen Mantel, der
in der Mitte von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Er war
mittelgroß und schlank, und auf der Stirn zeichnete sich eine
auffällige Narbe ab. Er musste in der gleißenden Sonne
blinzeln, so als wäre er die Helligkeit nicht gewohnt. Ein
kühler Wind spielte in seinem dichten, dunklen Haar. Zu seinen
Füßen lag ein länglicher Kasten mit Griffen an
beiden Seiten.
    Der Mann stand ganz allein auf dem
Kai, aber nicht weit von ihm entfernt saßen zwei Männer
an der Wand eines Schuppens und beobachteten neugierig diesen
ungewöhnlichen Gast. Ein kleiner Lastwagen fuhr von der
Anlegebrücke zur Straße hoch, und bald war nichts mehr
von ihm zu sehen als die dichte Staubwolke, die er hinter sich
herzog.
    Die Umgebung war dem jungen Mann
offenbar fremd. Beklommen ließ er seine Blicke über den
weiten Fjord zu den Inseln in der Ferne schweifen. Zwei Raben
kreisten hoch über ihm und krächzten ab und zu. Dicht
über der Meeresoberfläche schwebten einige kreischende
Küstenseeschwalben. Diese Vogellaute riefen keine guten
Erinnerungen in ihm wach, und unwillkürlich hielt er sich die
Ohren zu und schloss eine Zeit lang die Augen. Dann wurde ihm aber
klar, dass es nicht möglich war, die Umwelt auf diese Weise
auszuschließen. Er versuchte, die Erinnerungen
abzuschütteln, steckte die Hände tief in die
Manteltaschen und ballte sie zu Fäusten.
    Das Boot näherte sich jetzt der
Küste. Es verlangsamte seine Fahrt und manövrierte an die
Anlegebrücke heran. Der Mann nahm das Tau in Empfang, das ihm
aus dem Boot gereicht wurde, und hielt dagegen, während zwei
Männer auf den Kai kletterten.
    »Guten Morgen,
allerseits«, sagte derjenige, der zuerst oben ankam, ein
rüstiger Mann, der auf die siebzig zuging, wohl beleibt und
mit einer frischen, roten Gesichtsfarbe. Der weiße Bart war
ausrasiert und rahmte ein rundes, grobknochiges Gesicht mit einer
kurzen, knolligen Nase ein. Er trug schenkelhohe Stiefel und eine
altes gestreiftes Jackett aus Wolle. Auf dem Kopf hatte er eine
Schirmmütze. 
    »Elliðagrímur
Einarsson heiße ich, ich bin der Gemeindevorsteher von
Flatey, aber Grímur genügt. Du bist doch der
Bevollmächtigte des Bezirksamtmanns in
Patreksfjörður, nicht wahr?«
    »Ja, und mein Name ist
Kjartan«, sagte der Mann, der auf dem Kai gestanden hatte,
und ergriff die ihm entgegengestreckte Hand des Gemeindevorstehers.
Sie war kräftig und grob, der Händedruck fest und
warm.
    »Und das ist Högni,
Volksschullehrer in Flatey - und Organist an unserer Kirche«,
erklärte der Gemeindevorsteher und deutete auf seinen
Begleiter, einen großen, schlanken Mann in einem sauberen
blauen Overall und hohen Gummistiefeln. »Bei der Seehundjagd
im Frühjahr ist er Bootsmann bei mir, und im Sommer mäht
er für mich die Heuwiese«, fügte der
Gemeindevorsteher hinzu.
    Högni grüßte
ebenfalls mit festem Händedruck. Er trug einen großen,
sorgfältig gepflegten, grauen Schnauzbart, war aber ansonsten
glatt rasiert. Der Lehrer musste im gleichen Alter sein wie sein
Reisegefährte, aber man sah ihm die Jahre weit weniger an.
Seine helle Schirmmütze hatte er in den Nacken
geschoben.
    Der Gemeindevorsteher musterte den
Bevollmächtigten und zog eine Schnupftabakdose
hervor.
    »Du arbeitest wohl noch nicht
lange beim Bezirksamtmann, mein Lieber?«, fragte er und bot
dem Bevollmächtigten eine Prise an.
    »Nein, ich bin erst vorgestern
auf dem Seeweg nach Patreksfjörður gekommen«,
antwortete Kjartan und lehnte die angebotene Prise mit einer
Handbewegung ab.
    »Und dann wird man sofort auf
eine Dienstreise beordert!« Gemeindevorsteher Grímur
lächelte verschmitzt, während er seine Schnupftabakdose
an Högni weiterreichte.
    »Ja, mit so einem Auftrag hatte
ich nicht gerechnet. Eigentlich sollte ich dem Bezirksamtmann im
Büro zur Hand gehen, bei Grundbucheintragungen und
dergleichen.«
    »Dann hast du also nicht vor,
lange hier zu bleiben?«, fragte
Grímur.
    »Nein, nur bis zum
Herbst.«
    »Hast du eine Ausbildung
für die Verwaltung?«
    »Ich habe in diesem
Frühjahr das Jurastudium abgeschlossen, eine Karriere in der
Verwaltung schwebt mir eigentlich nicht
vor.«
    »Und was willst du
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