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Das Phantom von Manhattan - Roman

Titel: Das Phantom von Manhattan - Roman
Autoren: Frederick Forsyth Wulf Bergner
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Aber ich hatte eine Tochter, Meg, die damals sechs Jahre alt war. Draußen in Neuilly war Jahrmarkt, und ich bin eines Sonntags mit ihr hingefahren. Es gab Dampforgeln und Karussells und dressierte Affen, die Centimes für den Leierkastenmann einsammelten.
    Meg war noch nie auf einem Rummelplatz gewesen. Aber dort gab es auch eine Kuriositätenschau. Eine Reihe von Zelten mit Schildern, auf denen der stärkste Mann der Welt, ein so mit Tätowierungen bedeckter Mann, daß seine Haut nicht mehr zu sehen war, ein Schwarzer mit einem Knochen durch die Nase und spitz zugefeilten Zähnen und eine Dame mit Bart angekündigt waren.
    Am Ende dieser Reihe stand eine Art Käfig auf Rädern, dessen Gitterstäbe etwa einen Viertelmeter Abstand voneinander hatten und der mit fauligem, stinkendem Stroh ausgelegt war. In der Sonne war es hell, aber das Innere des Käfigs war dunkel; deshalb trat ich näher heran, um zu sehen, was für ein Tier darin gefangen war. Ich hörte Ketten rasseln und sah etwas im Stroh zusammengerollt liegen. Im nächsten Augenblick trat ein Mann auf mich zu.
    Er war groß und stämmig und hatte ein gerötetes, grobes Gesicht. Vor seinem Bauch hing eine Art Tablett, das er an einem Gurt um den Hals trug. Darauf lagen Pferdeäpfel, die er bei den Ponys aufgesammelt hatte, und Stücke von verfaultem Obst. ›Na, wie wär’s Madame?‹ sagte er. ›Wollen Sie mal versuchen, das Ungeheuer zu treffen? Jeder Wurf ein Centime.‹ Dann wandte er sich dem Käfig zu und rief: ›Los, komm her,
komm nach vorn, sonst weißt du, was du kriegst!‹ Die Ketten klirrten wieder, und ein Wesen, das eher einem Tier als einem Menschen glich, kam nach vorn in den helleren Bereich hinter den Gitterstäben geschlurft.
    Ich konnte sehen, daß es tatsächlich ein Mensch war, obwohl es nicht viel Menschenähnliches aufwies. Ein über und über mit Schmutz bedeckter Junge in Lumpen, der von einem verschrumpelten Apfel abbiß. Kot und Mist klebten an seinem schrecklich mageren Körper. Er trug Hand- und Fußfesseln, und der Stahl hatte sich ins Fleisch gefressen und schwärende Wunden hinterlassen, die von Maden wimmelten. Aber es waren sein Kopf und sein Gesicht, die Meg vor Angst in Tränen ausbrechen ließen.
    Schädel und Gesicht waren gräßlich deformiert, wobei ersterer nur einige verfilzte Haarbüschel aufwies. Das Gesicht war entlang einer Seite entstellt, als sei es vor langer Zeit von einem monströsen Hammer getroffen worden; und das Fleisch dieser Visage war roh und formlos wie geschmolzenes Kerzenwachs. Die Augen lagen tief in runzligen, mißgebildeten Höhlen. Nur eine Hälfte des Mundes und ein Teil des Unterkiefers auf dieser Seite waren nicht deformiert und sahen wie ein normales menschliches Gesicht aus.
    Meg hielt einen kandierten Apfel in der Hand. Ich weiß nicht, warum, aber ich nahm ihn ihr aus der Hand, trat an die Gitterstäbe und hielt ihn dem Wesen hin. Der stämmige Mann bekam einen Wutanfall und kreischte und brüllte, ich brächte ihn um seinen
Lebensunterhalt. Ich ignorierte ihn und drückte den Apfel in die schmutzigen Hände hinter dem Gitter. Und ich blickte in die Augen dieses entstellten Ungeheuers.
    Pater, als die Oper vor fünfunddreißig Jahren im Deutsch-Französischen Krieg geschlossen war, habe ich zu den Frauen gehört, die unsere von der Front zurückgebrachten Verwundeten gepflegt haben. Ich habe Männer in Todespein gesehen, ich habe sie schreien gehört. Aber ich habe niemals solche Schmerzen gesehen wie in diesen Augen.«
    »Schmerzen gehören zum menschlichen Dasein, mein Kind. Aber was Sie an diesem Tag mit dem kandierten Apfel getan haben, ist keine Sünde, sondern ein Akt des Mitleids gewesen. Ich muß Ihre Sünden hören, wenn ich Ihnen Absolution erteilen soll.«
    »Aber ich bin in dieser Nacht hingefahren und habe ihn gestohlen.«
    » Was haben Sie getan?«
    »Ich bin ins alte Opernhaus gegangen, für das ich einen Schlüssel besaß, habe aus der Werkstatt einen schweren Bolzenschneider und aus dem Kostümfundus einen weiten Umhang mit Kapuze geholt, habe mir eine geschlossene Droschke genommen und bin nach Neuilly zurückgefahren. Der weite Rummelplatz hat verlassen im Mondschein gelegen. Die Schausteller haben in ihren Wohnwagen geschlafen. Einige Köter haben zu kläffen begonnen, aber ich habe ihnen Fleischbrocken hingeworfen. Ich habe den fahrbaren Käfig gefunden, den Riegel zurückgezogen, die Tür geöffnet und leise hineingerufen.

    Der Ärmste war an eine Seitenwand
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