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Das Pesttuch

Das Pesttuch

Titel: Das Pesttuch
Autoren: brooks
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mit ihm zum Hafen Weiterreisen. Selbst heute weiß ich nicht wirklich, was mich diesbezü g lich so eigensinnig gemacht hatte, aber damals schien es mir gut zu sein, jede Bindung an mein altes Leben zu kappen. Eines war mir plötzlich klar: Ich wollte nicht Tag für Tag an einem weiteren Ort leben, wo auch Elinor gelebt hatte. Schließlich war ich nicht Elinor, sondern Anna. Es war Zeit, einen Ort zu s u chen, wo ich gemeinsam mit dem Kind etwas ganz Neues aufbauen könnte.
    In einem Gasthaus am Hafen belegte ich ein Zi m mer, In den nächsten Tagen sollte mich mein überei l ter Entschluss noch öfters reuen, denn die Entsche i dung, welchen Kurs ich einschlagen sollte, erwies sich als überaus schwierig. Während dieser Zeit schlief ich kaum. Unser Zimmer lag unmittelbar n e ben einem Glockenturm, der stündlich schlug. Jeder Schlag half mir lediglich dabei, die Zeit zu zählen, die ich wach gelegen war und mir den Kopf über u n sere Zukunft zerbrochen hatte. Wenn ich dann kurz vor Sonnenaufgang vor lauter Erschöpfung endlich eingeschlafen wäre, wachten die Möwen auf und schrien in den Himmel, als stünde bei Sonnenau f gang der Weltuntergang bevor.
    Letztlich kam die Entscheidung weniger von mir als von außen. Gerade als die Möwen wieder im Chor zu schreien begannen, schlug der Gastwirt, o f fensichtlich ein anständiger Mensch, gegen meine Türe. Er war sehr aufgeregt und sagte, ein junger Edelmann habe sich schon in der ganzen Stadt nach meinem Aufenthaltsort erkundigt. »Nun ärgern Sie sich mal nicht drüber, aber der tönt überall ‘rum, Sie hätten seiner Familie Juwelen geklaut. Ich hab das ja nicht g e glaubt, müssen Sie wissen. Wer stellt sich schon mit seinem eignen Namen vor, wenn er ‘n Dieb ist. Und dann noch etwas Komisches: Beso n ders nach Ihrem Kind hat er immer weiter gebohrt. Da schien er viel wilder drauf zu sein als nach den Klunkern. Ich misch mich ja nicht gern in die Sachen meiner Gäste, Mistress, aber das is’n ungemütlicher Kerl. Und wenn ich Sie wäre, würd ich das nächste Schiff ne h men, egal, welches, und egal, wohin.«
    Zufälligerweise, oder besser gesagt passenderwe i se, war eine Karacke mit einer Ladung Bleibarren aus den Gruben am Peak, die für die Glasmacher von Venedig bestimmt waren, das einzige Schiff, das an jenem Tag mit der Vormittagsflut auslief. Die Lag u nenstadt war mir kein Begriff, und die herunterg e kommene Karacke, die bedrohlich am Dock aufragte, wirkte nicht sehr seetauglich. Aber, wie schon g e sagt: Ich hatte keine Wahl. Also bezahlte ich einen Teil des Bradfordschen Goldes für eine kleine Kab i ne. Noch mehr benötigte ich für die Amme und ihr Gejammer, mit einer Seereise hätte sie nicht gerec h net. Und damit reiste ich aus meiner Heimat ab: auf einem Frachter, der genau mit jenem Blei voll gel a den war, über das meine Füße ihr Leben lang gela u fen waren. Während ich mit dem Säugling in jenem schwankenden Bett hin und her schaukelte, verlor ich schon bald jedes Gefühl für Tag und Nacht. Ich dac h te schon, unsere Geschichte würde hier enden, wenn das meergrüne Wasser durch die Planken bricht und uns hinunter in die Tiefe reißt.
    Doch dann erwachte ich eines Morgens bei glatter See. Die warme Luft duftete nach Kardamom. Ich nahm das Kind und ging an Deck. Nie werde ich das blendende Sonnenlicht vergessen, das sich an weißen Mauern und goldenen Kuppeln brach. Nie den A n blick jener Stadt, die sich über den Berg ergoss und die breite, blaue Bucht umfing. Ich erkundigte mich b eim Kapitän nach dem Namen dieses Ortes, und er erklärte mir, wir seien im Hafen von Oran gelandet, der Heimat andalusischer Araber.
    In meinem Gepäck befand sich Elinors Buch, eine der wenigen Habseligkeiten, die ich mitgebracht ha t te. Jener kostbare letzte Band von Avicennas Kanon der Medizin. Trotz seines Gewichts hatte ich ihn zur Erinnerung an sie und an die Arbeit, die wir gemei n sam leisten wollten, eingepackt. Eines Tages werde ich Latein lesen können und den gesamten Inhalt di e ses großartigen Buches auswendig lernen, dachte ich mir. Voll Bewunderung hatten Elinor und ich festg e stellt, dass ein Ungläubiger schon vor so langer Zeit so viel wunderbares Wissen besessen hatte. Dann musste ich an all die Dinge denken, die die muse l manischen Ärzte seit seinem Erscheinen entdeckt haben könnten. Plötzlich hatte ich den Eindruck, mich hätte es nur deshalb in diese sonnendurchflutete Stadt verschlagen, damit ich die Möglichkeit hätte,
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