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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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bevor er Zeit hat zu
     protestieren, schnurstracks zu dem neuen Anbau hinüber, in dem Glauben, ich sei der einzige Mann, der dabei sein darf. Unauffällig
     verziehe ich mich in einen dunklen Winkel und beobachte die Frauen, die geschäftig hin und her hasten. Ich glaube, ich bin
     aufgeregter als Sinshie selbst.
    Ich hatte eine feierliche Atmosphäre erwartet. Aber Sanshie plaudert locker mit ihren Verwandten und Freundinnen, während
     mir zumute ist, als habe man mir erlaubt, Einblick in ein jahrtausendealtes Geheimnis zu nehmen. Jeden Moment ist es so weit.
    Da – Sinshie betritt den Raum. Auf der Schwelle bleibt sie kurz stehen. Sie sieht so alt aus, wie sie |49| ist: dreizehn. In ihrem Gesicht spiegeln sich gleichermaßen Freude und Furcht. Sie trägt eine Hose und eine Bluse, das Haar
     ist mit einem roten Band zurückgebunden. Ihre Mutter erwartet sie beim Hauptpfeiler. Sinshie geht auf sie zu. Hinter dem Mädchen
     folgen einige der Familie nahestehende Männer. Der letzte ist Lei, mit meiner Kameraausrüstung über der Schulter.
    »Hieß es nicht, bei der Zeremonie dürften keine Männer anwesend sein?«, raune ich ihm zu.
    »Sie dürfen nicht teilnehmen, aber zuschauen schon.« Und dann fügt er nachsichtig hinzu: »Was hast denn du geglaubt?«
    Sanshie und Tsie haben mich entdeckt und fangen an zu kichern – allmählich gewöhne ich mich an den Humor der Mosuo-Frauen.
    Ich versuche Flagge zu zeigen und verlasse meine Ecke, um mich zu meinen Geschlechtsgenossen zu gesellen, als ob nichts geschehen
     sei.
    »Ist einer von ihnen der Vater?«, frage ich Lei.
    »Nein«, erwidert er und erinnert mich sogleich daran, dass ich keine Fragen stellen darf.
    Über einem Schweinefell liegt ein Sack mit Saatkörnern als Symbol für Wohlstand. Sinshie zieht die Schuhe aus und stellt sich
     darauf. Ihre Füße sind ganz blutleer, und sie rührt sich kaum. Sie scheint darauf konzentriert, sich ihre Angst nicht |50| anmerken zu lassen. Voller Stolz ruht das Auge der Mutter auf ihr. Nun treten die geladenen Frauen vor und übergeben die Kleidungsstücke,
     die sie eigens für Sinshie angefertigt haben, und begutachten dabei das Ergebnis ihrer Nähkünste. Sanshie hilft ihr in die
     hellbraunen, bis zum Knöchel geschnürten Stiefel. Eine der Tanten zieht ihr den traditionellen weißen Rock über die Hose –
     obwohl die Straßen im Dorf staubig sind, halten die Mosuo kompromisslos daran fest, weiße Röcke zu tragen, und nur sie kennen
     das Geheimnis, trotzdem stets tadellos auszusehen.
    Sinshie hebt die Arme, um in den Kasack zu schlüpfen, den Tsie für sie angefertigt hat, er ist rot bestickt, und man sieht,
     wie viel Arbeit er seine Schöpferin gekostet hat. Gerührt küsst das junge Mädchen die Stirn der Freundin ihrer Mutter.
    Tsies Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten, ich weiß nicht, ob sie ergriffen ist oder ob sie sich unwohl fühlt, weil der
     Kasack dem Mädchen zu groß ist. Sie versucht ihn anzupassen und krempelt die Ärmel ein Stück hoch. Eine Tante reicht Sinshie
     einen Gürtel, um die Weite zu kaschieren, er ist etwa zwanzig Zentimeter breit, bunte Abzeichen schmücken ihn.
    Haben schon die Kleidungsstücke den Damen bewundernde Ausrufe entlockt, so rufen die Armbänder, |51| Ohrringe und Ketten einen wahren Tumult hervor. Einen Moment lang habe ich den Eindruck, dass sie alle erst dreizehn sind.
     Sie probieren den Schmuck an, tauschen mit den anderen, gehen zum Fenster, um ein Stück im Tageslicht zu betrachten. Es handelt
     sich um Modeschmuck, aber doch eben um kleine Schätze, und das werden sie für Sinshie immer bleiben.
    Das Wichtigste ist der traditionelle, aus Yak-Wolle gefertigte – der Yak ist der Ochse mit dem langen, dunklen Fell aus dem
     Himalaya – und mit Seide gebundene Kopfputz. Er sieht aus wie eine Mütze, die in einem langen, bis zur Hüfte reichenden Pferdeschwanz
     endet. Er ist mit Bändern aus weißen Perlen und silbernen Spangen verziert, und im Frühjahr dekoriert man ihn zusätzlich mit
     Blüten.
    Sanshie nimmt den Kopfschmuck feierlich in die Hand. Ihre Tochter folgt dieser Geste mit erwartungsvollem Blick: Sanshie legt
     den Putz auf das Haar ihrer Tochter, damit hat die Zeremonie ihren Höhepunkt erreicht.
    Das Mädchen, das eben noch barfüßig auf den Sack mit dem Korn stieg, ist nun eine Frau. Ab sofort genießt sie die Privilegien
     und die Verantwortung einer Erwachsenen.
    Die Versammelten beglückwünschen sie und |52| überhäufen sie mit weiteren
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