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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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biegen, kommen vier Frauen zu Pferd vorbei. Sie unterhalten sich einfach weiter, ohne zu grüßen.
    »Lei, frag ihn, warum sie ihn nicht grüßen.«
    »Wie soll ich ihn das fragen?«
    Ich schweige, in der Hoffnung, dass er versteht, dass es mir nach einer halben Weltreise gestattet sein sollte, die Grenzen
     der guten Erziehung auch mal zu überschreiten.
    Lei räuspert sich und übersetzt, was ich wissen möchte. Das Dorfoberhaupt versteht nicht recht, worauf ich hinauswill.
    »Manchmal grüßen sie, manchmal nicht«, übersetzt Lei. »Damit hat es nichts Besonderes auf sich.«
    Lei gesteht, dass auch er sich darüber gewundert hat.
    Wir erreichen unser Ziel, ein Haus am Rand des Dorfes. Sicheren Schrittes und in aufrechter Haltung marschiert Lu Gu Pintsa
     durch die Tür in den Innenhof, geradewegs auf einen Mann zu, der rauchend im Schatten der Galerie sitzt. Lu Gu bedeutet uns,
     dass wir vor der Tür warten mögen.
    Das Treffen dauert etwa eine Viertelstunde, wir |57| gehen weiter, machen allerdings nur hundert Meter weiter halt vor einem nächsten Haus. Die Szene wiederholt sich: Ein rauchender
     Mann im Gespräch mit dem Oberhaupt. Einer hockt dem anderen gegenüber, die Knie berühren fast die Brust.
    Nachdem Lu Gu Pintsa sich verabschiedet hat, treten wir den Rückweg an. Die Matriarchin des zweiten Hauses lehnt gegen einen
     Baum am Seeufer und strickt. Ihre Augen sind auf den Dorfchef gerichtet, und als wir an ihr vorübergehen, neigt sie den Kopf.
     Lu Gu winkt ihr freundlich zu und nickt.
    Mir wird klar, dass Lu Gu sich auf ihren Rat in den Häusern eingefunden hat. Und auch wenn er als Mann des guten Willens gilt,
     denkt die Matriarchin wohl, dass es nichts schaden kann, sich zu vergewissern, ob dem guten Willen auch Taten folgen.
    Das Oberhaupt in einem Mosuo-Dorf hat wenige, aber wichtige Aufgaben. Eine davon ist, zwischen den Einwohnern zu vermitteln.
     Aggressives Verhalten innerhalb und außerhalb der Familie wird als entehrend empfunden. Gewalt in all ihren Ausprägungen stößt
     auf Ablehnung – das ist ein auffälliges Merkmal der matriarchalischen Gesellschaften, mit denen ich in Kontakt kommen durfte.
     Jede unangemessene Reaktion, besonders die Anwendung körperlicher Gewalt, ist verpönt. Was in unserer |58| Welt als Tapferkeit, Männlichkeit oder sportlicher Kampfgeist angesehen wird, ist für sie nicht tolerierbar – es beschämt
     sie. Deshalb greifen sie auf den Dorfvorsteher zurück, damit dieser rechtzeitig seine Autorität geltend macht, bevor der Streit
     ausartet.
    Die Unterredungen heute waren ein erster Schritt. Keiner der beiden Männer ist es gewohnt, Besuch vom Dorfchef zu bekommen.
     Sein unerwartetes Auftauchen und das Gespräch über allgemeine Themen ist eine Form, ihnen mitzuteilen, dass ihre Differenzen
     eine bestimmte Grenze überschritten haben.
    »Und wenn die Methode nicht funktioniert?«
    »Im Allgemeinen funktioniert sie. Wir haben sehr strenge Regeln bei Missachtung unserer Grundsätze, glücklicherweise müssen
     wir sie nur selten anwenden.«
    Als wir wieder vor der Haustür der Pintsa angelangt sind, bittet Lu Gu uns herein. Wir nehmen um das Feuer herum Platz, und
     eine Frau, ich nehme an, seine Schwester, bietet uns etwas zu trinken an.
    »Buttertee?«
    »Ja, gern«, sage ich – nicht ohne Verdruss.
    Lu Gu erklärt mir, er sei ehrenamtlich tätig, aber er wolle so lange wie möglich im Amt bleiben. Er fühlt sich dazu berufen,
     für Harmonie und Frieden |59| unter seinen Leuten zu sorgen. Wobei man natürlich nicht vergessen darf, dass Mutter, Schwestern und Nichten diese ehrenwerte
     Berufung finanzieren.
    »Warum bekleiden Sie als Mann dieses Amt?«, frage ich.
    »Das Dorfoberhaupt ist immer ein Mann. Ebenso sein Stellvertreter. Die Frauen sind für alle familieninternen Angelegenheiten
     verantwortlich, sie verwalten den Besitz und führen den Haushalt, aber die Entscheidungsgewalt für Dinge, die die Gemeinschaft
     betreffen, obliegt einem Mann. Auch wenn eine Autorität angerufen wird, um einen Konflikt zwischen zwei Familien zu lösen,
     ist immer ein Mann zugegen.«
    »Haben Sie noch andere Aufgaben?«
    »Ja, ich bin beispielsweise mit der Organisation von Festen und Versammlungen betraut. Ich verwalte außerdem die Gelder der
     Gemeinschaft und bin zuständig für die Beziehung zu unseren Nachbarn.«
    »Zu den Han?«
    »Ja, obwohl sie sich sehr von uns unterscheiden.«
    »Inwiefern?«
    »Wenn sie heiraten, verlassen sie für immer das Haus
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