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Das Paradies des August Engelhardt

Das Paradies des August Engelhardt

Titel: Das Paradies des August Engelhardt
Autoren: Marc Buhl
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woher kam der Schmerz in seinem Körper. Verdammte Hühnerbrühe. Das tote Tier in ihm drängte nach draußen, wollte raus an die Luft und fraß sich durch die Eingeweide ins Freie. Er robbte an der Wasserlinie entlang nach Westen, der Sonne entgegen, die auf ihn einschlug wie ein Hammer, auch Helios züchtigt die, die er liebt, ein guter Vater, gut und gerecht, wie sein Vater gewesen war in der Winterwelt damals, immer nach Westen, obwohl das die falsche Richtung war, denn im Osten wartete Anna, das Morgenrot, der kommende Tag. Er würde sie aus den Klauen der Nacht befreien.
    Er wusste nicht, wie lange er sich über den Strand geschleppt hatte, bevor er Wilhelm sah, der am Wasser saß, mit der rechten Hand imaginäre Saiten zupfte und mit der Linken Akkorde am unsichtbaren Hals einer Gitarre griff, ihn ansah, zunickte.
    »Mir ist die hohe E-Saite gerissen, dreimal, das liegt an der Hitze. Ich habe keinen Ersatz mehr. Ich war wütend, aberich brauche sie gar nicht. Keine Saite. Keine Gitarre. Ich kenne die Töne. Die Musik ist da, auch ohne Instrument, sogar die schwierigen Stücke, an denen ich gescheitert bin, weil die Hände zu schwerfällig waren. Nie habe ich so gut gespielt, August, kannst du es hören?«
    Engelhardt schloss die Augen und hörte es: ein barocker Tanz, zuerst sehr steif und etwas schwerfällig, Männer und Frauen in hochgeschlossenen Kleidern, die Perücken gepudert, die Korsetts verschnürt, nur an den Fingerspitzen berührten sie sich, aber das Lied wurde schneller, die Seidenhandschuhe wurden abgestreift, noch schneller, eine Perticke flog vom Kopf, Knöpfe wurden geöffnet, die Mieder gelöst, die Schritte wurden freier, während sich die Betonung verschob, Sprünge möglich wurden, schnelle Partnerwechsel, Schrittfolgen, die keiner im Voraus geplant hatte, und schließlich eine kleine Melodie, die zur nächsten führte, und endlich drei Akkorde, die sich abwechselten, die Spannung hielten, statt sie aufzulösen, immer leiser wurden und langsamer, sodass die Tänzer ermattet zu Boden sanken.
    Wilhelm klatschte in die Hände.
    »Genug gespielt, schön, dass du wieder bei uns bist. Ich habe dich vermisst, und die anderen auch, lass uns in unser Dorf im Exil gehen, aber rede nicht mehr von den Nüssen, ich bitte dich, es gibt ein Glück jenseits davon, ich zeige es dir.« Wilhelm half ihm auf und hielt ihn unter den Armen auf dem Weg zu ihren Hütten und setzte ihn dort im Schatten ab, um die anderen zu holen, die überall waren, im Meer, dem Wald oder dem Dorf der Schwarzen. Vor Engelhardt ein ausgehöhlter Kürbis, darin braunes Wasser, eine Schöpfkelle.
    Er nahm einen Schluck.
    Das Brennen der Lippen verschwand. Sie wurden taub. Es war scharf. Gleichzeitig zog sich alles zusammen, als würde er einen Alaunstein lutschen. Kava, er kannte das, Kabua hatte sie ihm einmal angeboten, aber er hatte abgelehnt. Jetzt trank er. Trinken war schließlich erlaubt. Nur essen würde er nie wieder. Das Zeug kämpfte in seinen Engeweiden den Rest der Hühnerbrühe nieder, vertrieb sie, und an ihre Stelle trat eine große Ruhe wie im Innern der Kuppel eines Domes bei Nacht.
    Engelhardt hatte Lust, übers Wasser zu gehen. Er stand auf, vergaß sein Ziel, erstarrte auf dem Strand. Ein Schwarm Möwen flog durch seinen Kopf und nahm ihn mit sich, stieg hoch in den Himmel, und er sah seine Insel von oben, den sanften Südrand, die Felsen an der Westseite, an der die Strömung fraß, die er auch in sich spürte, während er weiterflog, über Kabuas Dorf zur Nachbarinsel. Ein Sturzflug erschreckte die Schulkinder, grelles Kreischen, Fluchen der Schwester, bevor er in einem weiten Halbkreis zurückkehrte, vorbei an der Siedlung der Jungborner, wo Friebel mit Hanteln trainierte, über seine verlassene Bibliothek zurück zu diesem Strand, wo er zurückfiel in seinen Körper, gerade als Bradtke und Sarah auftauchten, ihn ansahen und gleichzeitig anfingen zu lachen. Kava statt Kokos, sagte Bradtke, mein Reden. Erwin Tröndle stand plötzlich da und Franz-Karl. Karin zog das Grammophon auf und legte eine Platte auf den Teller, die Winterreise, aber die Musik kam nicht aus dem Trichter, sie kam aus ihm selber, aus seinem Mund flog sie in die Welt, und er sperrte ihn auf, damit Platz war für die Töne. Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus. Er weinte vor Glück, weil die Musik so groß in ihm war. Das war es, was Max gesucht hatte, hörst du das, Max, denn er war hier, ganz nah, und Engelhardt freute sich
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