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Das Paradies des August Engelhardt

Das Paradies des August Engelhardt

Titel: Das Paradies des August Engelhardt
Autoren: Marc Buhl
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in der alles andauernd am Absterben war. Er knotete einen festen Strick an die Füße und umfasste den Stamm. Er war schlank und rau, ein mitfühlendes Wesen, das sich leicht gegen ihn lehnte. Der Baum würde ihn gerne tragen, die Königin aller Pflanzen.
    Er schob sich nach oben, machte eine Pause nach drei oder vier Metern, versuchte, nicht nach unten zu sehen, schaffte es allerdings nicht, verdammt hoch schon, stieg dennoch weiter, acht oder neun Meter, noch nicht einmal die halbe Strecke, und doch sah die Welt schon ganz anders aus von hier oben: viel blauer das Meer, am Horizont die Berge Neulauenburgs, rechts von ihm, nur ein paar Hundert Meter entfernt, Kerawara, wo es eine Handelsniederlassung gab, und dahinter Ulu mit der Missionsstation. Geld und Gott, die waren überall, wo man hinkam, kein Fleck der Erde blieb davon verschont, Gott und Geld, in trauter Einigkeit. Er kletterte weiter hinauf, die nächsten Meter, bis es ihn schwindelte. In Indien hatte er dressierte Affen gesehen, die die Nüsse so lange gedreht hatten, bis sie hinunterfielen, während die Besitzer sie mit Pfiffen dirigierten, aber hier gab es keine Affen, hier musste er sich selber zum Affen machen. Er kämpfte sich die nächsten Meter nach oben, nicht mehr lange, und er würde die Palmwedel berühren können. Den ersten hatte er als Ministrant gehalten, zwölfjährig, am Palmsonntag in der großen Prozession, mit Weihwasser gesegnet und als Zeichen des Lebens und des Sieges. Ruhm und Preis und Ehre sei Dir, Erlöser und König. Jubelnd rief einst das Volk sein Hosianna Dir zu. Vorneweg der Priester, der Zelebrant und die Lektoren. Später kam der Zweig hinters Kruzifix und wurde dort braun. Hosianna.
    Ein paar Meter weiter die Krone. Er krallte sich einen Wedel, hielt sich fest, sah sich um. Look at the world from different positions. Unter ihm seine Insel. Etwa zwei Kilometer lang, siebenhundert Meter breit. Auf dem Meer vor ihm ein Dampfschiff, weiße Spur im Blau, vielleicht ein Transporter der Pflanzer. Schwarzer Rauch blakte in den Tropenhimmel. Dreck.
    Auch dem entkam man nicht. Geld, Gott und Dreck, der Dreiklang des zwanzigsten Jahrhunderts, das gerade begonnen hatte.
    Er hieb mit der Axt auf die Nüsse ein, die ihm am nächsten waren. Sie schlugen dumpf auf dem Boden auf. Er bekam Hunger, doch der Baum war zu hoch und er noch nicht unten. Das Runterkommen war das Schwerste, wie in den Bergen, wo er klettern war mit Walter. Die Westwand des Tödi im Frühherbst, Gewitter und Hagel beim Aufstieg, am Gipfel Glück und Käsebrot und Steinschlag beim Abstieg von den Gämsen. Zwei Brocken hatten ihn getroffen und Walter hatte ihn runtergeschleppt, während ihm das Blut über die Hose suppte. Gebrochenes Wadenbein, glatt durchschlagen, er hatte sich selber geschient, den Ärzten traute er schon damals nicht, und Anna hatte ihm Arnica gegeben. Er ließ den Palmwedel los und versuchte langsam nach unten zu rutschen, aber das war schwierig. Er hätte doch eine Hose anziehen sollen. Der Stamm raspelte über Schenkel und Glied. Als er unten ankam, war der Hunger nicht sein größtes Problem. Engelhardt sprang ins Wasser, um die Wunden zu desinfizieren, schrie kurz auf, als der Schmerz ihn durchfuhr, fing an zu singen, als der Schmerz nachließ, vor Freude darüber und über das Wasser, die Palmen, Farben, Licht und Luft und darüber, dass er hier am Äquator war, wo die Erde die größte Umdrehungsgeschwindigkeit hat und den Menschen der Sonne entgegenschleudert. Fahrt durch Länder, Kontinente, Urwald, Wüste heiß und leer, sang er und Nach Süden nun sich lenken die Voglern allzumal, schluckte Wasser, tauchte unter, sah eine Schildkröte vorübergleiten, schön und schwerelos und sang auch für sie Sprung auf und in das Leben, ihr jungen Kameraden, wir wollen wie die Reben in Sonnengluten baden, aber die Schildkröte ließ sich nicht beeindrucken und verschwand, ohne sich um ihn zu kümmern.
    Er schlug die Nuss mit der Axt auf und trank das Wasser, das gleichzeitig frisch war und süß. Der Kern war noch weicher als die, die er in Indien probiert hatte, noch saftiger, und nach einer Nuss war er satt. In zwanzig Minuten hatte er genügend Essen für einen ganzen Tag geerntet. Hier musste er nicht das Brot essen im Schweiße seines Angesichts, wie es Vater zum Abendessen gebetet hatte. Hier hatte kein Erzengel Gabriel die Menschen vertrieben mit Feuerschwert. Hier war die Welt ohne Sünde, in dem Garten, den der Herr gepflanzt hatte gegen
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