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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium
Autoren: Mattias Gerwald
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sprach, dann glich seine Stimme einem fiebernden Röcheln, dem Fauchen eines Raubtiers.
    Verwahrlost und barfüßig, so war ich einst, dachte der Mann, während er durch die Gänge in Richtung des Audienzzimmers schritt. Hätte ich je gedacht, zu einer solchen Audienz gerufen zu werden? In zerfetzte Sackleinwand gehüllt, mit Dreck und Schwären überzogen, das war ich einst. Wann war das gewesen? In einem anderen Leben? Oder gestern?
    Er erinnerte sich nicht. Er sah sich aber genau vor sich.
    Von Wurzeln und Gras und gelegentlich auch von getöteten und verbrannten Feindesleichen sich nährend, war er mit seiner wüsten Horde von pauperes, von armen Gottesmördern, durch das Land gezogen. Sie hatten gegen die Papstkirche gehetzt und jeden Landstrich verwüstet, durch den sie zogen. Zu arm für Schwerter und Lanzen, benutzten sie bleibeschwerte Holzkeulen, gespitzte Äste, Schaufeln, Hacken, Messer, Äxte und Schleudern.
    Beim Vorwärtsstürmen, wenn es galt, ein Kloster zu verwüsten, eine Kirche zu plündern, eine Stadt auszurauben, knirschten sie mit den Zähnen, als beabsichtigten sie, ihre Feinde tot oder lebendig zu fressen. Man nannte sie lebende Teufel, und das waren sie auch, das wusste der Mann ganz genau.
    Sein Leitspruch war immer gewesen: Was schert es mich, wenn ich sterbe, solange ich tue, wonach es mich gelüstet! So war er damals gewesen! Nur wann das alles gewesen war, daran erinnerte er sich nicht.
    Es war in jenen Tagen aus seinem Gedächtnis verschwunden, als man die glühenden Eisen in seinen Leib gebohrt hatte, er spürte noch heute die schmerzenden Narben. Und er schüttelte sich einen kurzen Moment lang, als müsste er lästige Insekten abwehren.
    Man hatte ihn bekehrt. Er hatte widersagt, und zwar gründlich. Nennt mich nicht Saulus, dachte er, nennt mich Paulus.
    Er hörte, wie er leise knurrte, spürte, wie er das Gebiss freilegte. Er keuchte. Dann aber, als er vor der Tür stand, hinter der ihn sein Auftraggeber erwartete, richtete er sich langsam auf. Mit stolz geschwellter Brust stand er da und verzog keine Miene. In dem roten Seidenanzug mit der blauen Kokarde sah er aus wie ein Edelmann.
    Er zog die Tür auf.
    »Da ist unser Mann, Sire!«, sagte eine Stimme.
    Und eine andere setzte hinzu: »Haltet die Fangnetze bereit, denn ich habe schon gesehen, wie er Lebende mit den Zähnen zerriss!«
    Unsinn, dachte der Eintretende, wovon sprechen sie? Sie sind feindselig, hasserfüllt. Er hatte mit ihnen nichts zu schaffen, er wollte nur mit seinem Auftraggeber sprechen und lächelte jetzt fein.
    Sie brauchten Männer wie ihn, erbarmungslose Männer, die niemals zögerten und keine Angst kannten. Die Angst war ihm ausgebrannt worden. Und sein Körper bewegte sich vorwärts, als folge er einer unhörbar bleibenden Melodie.

 
    3
     
     
     
    Februar 1320. Richtung Enkomi
     
    Die Burg bot den Reisenden sicheren Schutz vor einem Sturm, der unversehens aufgezogen war und nun roten Sand aufwirbelte. Auch ein Gewitter setzte ein, es hagelte sogar kurzzeitig.
    Die Gefährten lenkten ihre Pferde durch einen Vorbau in Richtung eines Innentores und saßen in der Vorburg ab. Stalljungen kümmerten sich um ihre Pferde. Durch ein Tor mit einer Zugbrücke gingen sie empor in die dicht bebaute Oberburg. Eine Klosterkirche mit einer Kuppel, die auf Stützen ruhte, stand zur Rechten. Sie hörten monotonen Gesang aus dem Inneren. Sie erreichten eine große Halle und durch eine Passage eine gewölbte Loggia. Dort befanden sich die Gemächer des Burgherrn, die schon von weitem an ihren prächtigen Maßwerkfenstern zu erkennen waren.
    Die Gefährten atmeten auf. Hier konnten sie ausruhen.
    Das Einzige, was Henri über die Burg wusste, war, dass sich in den Kriegen zwischen dem deutschen Kaiser Friedrich und den kaiserfeindlichen zyprischen Baronen um Jean d’Ibelin die Kaisertreuen darin verschanzt hatten. Auch wenn dies beinahe hundert Jahre her war, die Burg wirkte noch immer wehrhaft. Mittlerweile stand allerdings ein ganzer Flügel Durchreisenden offen, und Pilger mussten für Unterkunft und Verpflegung nicht zahlen, hatte ihnen ein Hirte erzählt. Ein freundlicher Herr schien dieser Burg vorzustehen. Er weilte zurzeit allerdings nicht dort.
    Joshua wollte sich hier von den Freunden trennen. Es sollte der letzte Abend für acht Wochen werden, den die Gefährten miteinander verbringen würden. Er sollte ruhig und gemütlich verlaufen.
    Ein Haushofmeister wies ihnen ihre Zimmer zu, große, helle Räume, in
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