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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium
Autoren: Mattias Gerwald
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Bruder des Apostels Johannes, der als Jünger Jesu zu dessen innerem Kreis gehörte, lange im Schatten des heiligen Georg, aber jetzt verehren sie ihn alle. Ich war auch in Rom und in Jerusalem, wo ich das Pessahfest feierte.«
    »Hast du dort auch das Mazzot gefeiert, Ludolf?«, fragte Joshua.
    »Nein. Was ist das?«
    »Im Unterschied zum Pessah, das die ganze Familie feiert, ist Mazzot ein Wallfahrtsfest. Alle Männer sind verpflichtet, einmal im Jahr zur Gerstenernte zu ihrem Heiligtum zu pilgern. Für uns Juden war der Tempel von Jerusalem das Urheiligtum, heute sind wir in alle Welt verstreut, und wir haben in allen Ländern heilige Stätten.«
    »Ich pilgere zum Barnabas-Kloster, weil ich dort Trost für mich erhoffe«, bekannte Henri. »Ich erfülle damit keinen Auftrag. Ich verurteile die übertriebene Verehrung von Reliquien, wenn dadurch der Blick auf den wahren Glauben zu Gott verstellt wird.«
    »Aber die Reliquien der Heiligen sind Überreste von Vorbildern, die zur Imitatio anregen«, sagte Ludolf. »Die Heiligen gelten in besonderer Weise als Freunde Gottes, von ihm erwählt und zu lebendigen Zeichen und Zeugen seiner Gnade berufen – wir wollen diesen Reliquien der Heiligen natürlich nahe sein, weil wir damit dem Herrn nahe sind.«
    »Man soll die Heiligen ruhig anrufen und um ihre Fürsprache bitten«, meinte Henri. »Aber es darf nicht geschehen, dass die Fürsprecher bei Gott zu Helfern werden, die insgeheim Macht ausüben. Ich habe schon oft extreme Auswüchse der Reliquienverehrung erlebt. Man sammelte wahllos Knochen, die für viel Geld an naive Pilger verkauft wurden, und unaufhörlich wurden irgendwelche Feste gefeiert. Heiligenkulte können seltsame Blüten treiben. Oder nehmen wir den Ablasshandel. Wo bleibt da Gott?«
    »Das sind wirklich unangenehme Auswüchse«, gab Ludolf zu. »Heiligenfeste und Reliquienverehrung dürfen selbstverständlich nicht Überhand nehmen und die eigentlichen christlichen Feste verdrängen. Aber manchmal hilft der schlichte Glaube, damit die Wallfahrer sich besser fühlen. Ich werde bald die Reliquien des Apostels und Märtyrers Barnabas schauen und mich ihm nahe fühlen, das ist doch wunderbar!«
    Doch Henri überhörte diesen Einwand. »Mich stören auch die falschen Propheten, die sich überall breit machen«, sagte er stur. »Mir sind schon zu viele davon begegnet. Vor allem in Verbindung mit Aufrufen zu neuen Kreuzzügen sprießen immer wieder Propheten wie Pilze aus dem Boden. Sie predigen Ehre und meinen eigentlich nur Ruhm und Reichtum, sie prophezeien himmlischen Lohn, meinen aber irdischen, und wer ihnen unbequem wird, den bekämpfen sie.«
    »Das haben wir tatsächlich ein paar Mal erlebt«, bestätigte Madeleine, »und ich denke mit Schrecken daran zurück.«
    »Auch ich habe solche Männer schon predigen hören«, meinte Ludolf, »und, wie ich gestehe, sie haben mich zutiefst bewegt.«
    »Ergriffenheit ist nützlich«, meinte Henri. »Aber sie macht mir auch Angst. Wie in Avignon, wo der Papst zum Kreuzzug aufrief und Tausende wie aus einem Mund Deus le volt brüllten, Gott will es! Ein gigantisches Schwert schien durch die Luft zu sausen. Man umdrängte den Papst und bat kniend um seine Einwilligung, am ›heiligen Krieg‹ teilnehmen zu dürfen. Ein ebenfalls auf die Knie gesunkener Kardinal betete im Namen der versammelten Menge das Confiteor, das Schuldbekenntnis, und alle sprachen ihm die Worte unter Tränen oder von Zuckungen geschüttelt nach. Auch Kinder waren dabei. Ich habe einen Kinderkreuzzug begleitet, der von Marseille aus ins Heilige Land führte und in einer Katastrophe endete. Ich bin geheilt von tiefer Ergriffenheit, wenn Menschen sie erzeugen. Ergriffen bin ich allein von der Gegenwart Gottes.«
    »Nun ja, man glaubt bei solchen Anlässen natürlich an die Gegenwart Gottes!«, sagte Ludolf. »Wenn Prediger reden, dann glauben die Leute nicht selten, Gott zu vernehmen, und wenn es nur sein Flüstern ist.«
    »Ich sah einen Prediger mit langen weißen Haaren und einem ebensolchen Bart, bei dessen Auftreten sich die Menge sogar um ein Haar seines Esels raufte, um es als heiligen Schatz aufzubewahren«, erinnerte sich Joshua.
    »Andere zeigten Briefe vor, die angeblich Gott persönlich geschrieben hatte«, sagte Henri. »Und Städte bekriegten sich um den Besitz der besten Knochen irgendeines Märtyrers. Das ist keine gute Entwicklung.«
    »So lasst uns nicht zum Kloster des heiligen Barnabas pilgern, meine Freunde«, sagte Ludolf.
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