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Das Netzwerk

Das Netzwerk

Titel: Das Netzwerk
Autoren: David Ignatius
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sie immer recht stabil vor.»
    «Das ist sie auch – im Kern. Da ist sie sogar mehr als stabil. Aber an den Rändern fällt alles auseinander. Ein einziges Chaos. Da braucht es nur einen heftigen Windstoß, schon stürzt alles in sich zusammen. Fragen Sie mal einen Armenier, einenGeorgier oder einen Usbeken, die werden Ihnen dasselbe sagen.»
    Anna musterte Stone neugierig. Langsam glaubte sie zu verstehen, worauf er hinauswollte. «Und wo sollte ich beispielsweise einen Usbeken kennenlernen?», fragte sie. «Sie sagten ja bereits, die kommen nicht allzu oft nach London.»
    «Halten Sie einfach die Augen offen.»
    «Ist das ein Auftrag?»
    «Gott bewahre.» Stone vergrub sich etwas tiefer in seinem Sessel. «Ich bin nicht befugt, Ihnen Aufträge zu erteilen. Außerdem widerspräche das der offiziellen Politik.»
    «Welche Politik meinen Sie?»
    «Die Vereinigten Staaten verfolgen die strikte Politik, separatistischen Tendenzen einzelner Sowjetrepubliken keinen Vorschub zu leisten.»
    «Und warum? Falls die Frage überhaupt erlaubt ist.»
    «Weil man das für zu gefährlich hält. Es sähe zu sehr danach aus, als wollten wir den Sowjets an den Kragen. Mir persönlich gefällt ja genau das daran. Aber unsere Freunde im Außenministerium befürchten, es könnte zu einem Atomkrieg führen.»
    «Oh.»
    «Es wäre also grundfalsch von mir, Sie zu etwas Derartigem zu ermutigen.»
    «Aha.» Anna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
    «Grundfalsch», wiederholte Stone und erwiderte ihr Lächeln.
    «Und angenommen, dass ich wider Erwarten doch einmal einem solchen Unansprechbaren begegnen sollte   … wem würde ich dann davon erzählen?»
    «Ach, dann könnten Sie eigentlich auch mit mir Kontakt aufnehmen.» Stone lächelte immer noch. Und sah auf einmal gar nicht mehr so müde aus.
    Er leerte sein Glas und warf einen Blick auf die Uhr.
    «Ein Jammer», sagte er. «Leider muss ich zu einer Besprechung zurück in die Zentrale, obwohl ich mich viel lieber noch weiter mit Ihnen über die wahre Geheimdiensttätigkeit unterhalten würde. Aber ich fürchte, da haben die Bürohengste etwas dagegen.»
    Er erhob sich und gab ihr die Hand. «Sie sind eine äußerst talentierte junge Frau. Ich setze große Hoffnungen auf Sie.»
    «Danke», sagte Anna.
    «Auf Ihrem nächsten Heimaturlaub müssen Sie mich unbedingt besuchen.»
    «Gerne», sagte Anna. «Sehr gerne sogar.»
    Sie wollte Stone noch fragen, wo sie ihn erreichen könne, falls sie jemals rasch mit ihm in Kontakt treten müsse. Doch die Tür war bereits hinter ihm zugefallen.
     
    2  Am Abend vor ihrer Abreise nach London war Anna Barnes mit ihrer mütterlichen Freundin Margaret Houghton zum Essen verabredet. Ein durchaus passender Abschied, denn in gewisser Weise war schließlich Margaret an allem schuld – «Tante Margaret», die eigentlich gar keine richtige Tante war, sondern eine alte Freundin der Familie, eine schlanke Dame mit sanfter Stimme, die immer an Weihnachten und Ostern zum Essen kam und den Kindern exotische Geschenke aus aller Welt mitbrachte.
    Anna hatte schon als Kind geahnt, dass Margaret Houghton ihr Geld auf irgendeine geheimnisvolle Weise verdiente, so etwas bekam man in einer Familie eben mit. Allerdings hatte ihr nie jemand gesagt, um was für eine Tätigkeit es sich handelte;offenbar war sie zu schrecklich, um darüber zu reden. Einmal hatte Anna an Weihnachten nicht lockergelassen und ihren Vater so lange gelöchert, wo Margaret denn nun arbeite, bis er irgendwann entnervt geantwortet hatte: «Ach, du weißt schon   … oben am Fluss.» Für Annas damaliges Verständnis hätte dieser Fluss ebenso gut der Amazonas sein können. Doch als sie später begriff, was er damit gemeint hatte, fand sie die Vorstellung geradezu berauschend. Tante Margaret arbeitete bei der CIA!
    Margarets Tarnung bestand hauptsächlich in ihrer vornehmen Zurückhaltung. Sie war inzwischen Anfang sechzig, immer noch zierlich und schlank, trug das Haar zu einem akkuraten Knoten gesteckt und strich sich hin und wieder eine unsichtbare Strähne aus der praktisch faltenlosen Stirn. Sie hatte einen zarten, langen Hals und eine anmutige Haltung, und in ihrer Stimme klang eine Spur des alten Südens mit. Gleichzeitig umgab sie die Aura einer Frau, die im Leben einiges überstanden hat – eine tragische Liebesgeschichte vielleicht oder den Verlust eines Vermögens. Hundert Jahre zuvor hätte man sie wohl als «europäisch» bezeichnet und das keineswegs nur als Kompliment
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