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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk
Autoren: David Ignatius
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wiederholte Anna eine der Grundregeln, die ihre Dozenten ihr in den vergangenen Monaten eingeschärft hatten.
    «Wir sind hier in Rockville», sagte Stone. «Da interessiert sich ohnehin kein Mensch für uns.»
    Anna nickte. Sie kam sich vor wie ein richtiges Greenhorn.
    Stone trank noch einen Schluck Champagner und musterte sein junges Gegenüber. «Erzählen Sie mir ein bisschen von sich», sagte er. «Wie ich höre, haben Sie Osmanistik studiert. Das klingt spannend.»
    «Das finden die wenigsten», sagte Anna. «Mein Dissertationsthema lautete ‹Administrative Praktiken im spätosmanischen Reich›.»
    «Worum ging es dabei genau?»
    «Um die Frage, wie sich ein großes Imperium vor dem Niedergang zu retten versucht.»
    «Ausgesprochen zeitgemäß», bemerkte Stone. «Und wie, wenn Sie mir die Frage erlauben, haben sich die Osmanen zu retten versucht?»
    «Sie haben dafür gesorgt, dass ihre Untertanen sich gegenseitig an die Gurgel gingen. Die osmanischen Sultane waren Meister im Säen von Zwietracht. Leider war das auch so ziemlich das Einzige, was sie wirklich beherrschten.»
    «Also keine gute Option für uns, was?»
    Anna schüttelte den Kopf.
    «Und wieso haben Sie dieses hehre Unterfangen aufgegeben und beschlossen, Geheimagentin zu werden?»
    «Mir war langweilig», antwortete Anna. Das entsprach der Wahrheit, zumindest teilweise. Nach drei Jahren Forschungsarbeit für ihre Dissertation hatte sie sich etwa so verstaubt gefühlt wie die osmanischen Handschriften, die sie studierte. Außerdem stand sie vor den Scherben ihrer Beziehung mit einem Anglistik-Privatdozenten, für den es schon das höchste der Gefühle war, abends gemeinsam ein Eis essen zu gehen. Sie brauchte eine Veränderung in ihrem Leben, und als sie bei einer von der CIA gesponserten Konferenz einen Vortrag zur osmanischen Geschichte hielt und danach von einem Anwerber angesprochen wurde, hatte sie keine Sekunde gezögert.
    «Ein zweifelhaftes Motiv», sagte Stone.
    «Wieso?»
    «Weil Sie bald merken werden, dass die Arbeit eines Geheimagenten ebenfalls ausgesprochen langweilig sein kann. Wenn man sie richtig macht.»
    Anna musterte Stone. Er wirkte kein bisschen gelangweilt. Nur müde.
    «Noch etwas Champagner?»
    «Unbedingt», sagte Anna, und Stone füllte beide Gläser nach. «Wie sind Sie denn dazu gekommen, so viele Sprachen zu lernen?», fragte er.
    «Mir blieb nichts anderes übrig», sagte Anna. «In der Osmanistik ist das so etwas wie eine Grundvoraussetzung.»
    «Ach ja?»
    «Es gibt einen Witz, der unter Osmanisten kursiert», sagte sie. «Ein junger Student kommt zu seinem Professor und erklärt ihm, dass er Osmanist werden möchte. ‹Können Sie Türkisch?», fragt ihn der Professor. ‹Ja.› ‹Können Sie Arabisch?› ‹Ja.› ‹KönnenSie Persisch?› ‹Ja.› ‹Können Sie Deutsch?› ‹Ja.› ‹Können Sie Russisch?› ‹Nein.› ‹Na, dann kommen Sie wieder, wenn Sie Russisch gelernt haben.›»
    Stone lachte. «Sehr komisch», sagte er.
    «Das dachte ich auch», erwiderte Anna. «Bis ich versucht habe, Russisch zu lernen.»
    «Nun, wie dem auch sei», sagte Stone leutselig. Er schien endlich zum eigentlichen Thema kommen zu wollen. «Vermutlich fragen Sie sich, worum es bei diesem Treffen eigentlich geht.»
    «Ehrlich gesagt ja.»
    «Falls es Sie beruhigt: Ich habe nicht vor, Ihnen einen Vortrag darüber zu halten, wie schwer man es als Frau beim Geheimdienst hat.»
    «Gut», sagte Anna. «Den habe ich nämlich schon gehört. Mehrfach.»
    «Und Sie sollten auch nichts von dem, was ich Ihnen gleich sagen werde, allzu ernst nehmen. Sie werden ja nicht für mich arbeiten, sondern für den Leiter des Stützpunkts in London – also für die europäische Abteilung. Nichtsdestotrotz wollte ich Sie vor Ihrem Aufbruch noch persönlich kennenlernen. Nach Ihrem Lebenslauf zu urteilen, scheinen Sie mir nämlich eine vielversprechende junge Agentin zu sein.»
    Anna kniff die Augen zusammen. «Wofür sind denn Sie eigentlich zuständig, wenn ich fragen darf?»
    «Eine sehr gute Frage», sagte Stone, doch die Antwort blieb aus. So gut konnte die Frage wohl doch nicht gewesen sein. Stone saß einfach nur entspannt in seinem Sessel, hielt sein Glas gegen das Licht und beobachtete die Champagnerbläschen.
    «Die Vereinigten Staaten befinden sich zurzeit in keiner allzu glücklichen Phase», fuhr er schließlich fort. «Und für die Institution, der Sie sich anschließen wollen, ist es eine ganz besondersglücklose Phase.
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