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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel
Autoren: Christian Ditfurth
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fühlte, wie seine Muskeln latent angespannt waren, immer bereit, auf jede denkbare Überraschung zu reagieren.
    Er gab sich auch zu, dass er keineswegs aus dem Nichts kam und auch nicht gänzlich gefeit war vor den Fehlern seiner Eltern. Henri erinnerte sich gut an die ewigen Streitereien seiner Eltern. Der Vater war Wehrmachtoffizier gewesen, ein kleiner General, aber zackig. Befehlston auch zu Hause. Nie hatte er seinem einzigen Jungen über das Haar gestrichen, nie hatte er ihn gelobt. Ein Aha war die höchste aller Auszeich nungen gewesen. Wenn man zu viel lobt, werden sie übermütig. Zucht ist das A und O der Erziehung. Man muss den Kindern erst das Rückgrat brechen, um Men schen aus ihnen zu machen. So hatte er es mit seinen Untergebenen gehalten, so auch mit der Familie. Die Mutter – warum musste sie nur diesen Kerl heiraten? – hatte es bald nicht mehr ausgehalten. Sie trat heimlich einer freikirchlichen Sekte bei, die mehr im Verbor genen wirkte, aber von der Gestapo wohl nicht ernst genommen worden war, und als es dann doch herauskam, belegte der Vater sie mit der Höchststrafe, indem er schwieg und ihr verbot, das Haus ohne seine Billigung zu verlassen. Doch sie ging weiter in ihre Sekte und war nun bereit, die Gefahr noch strengerer Bestrafung auf sich zu nehmen. Natürlich merkte der Alte, wenn er auf Fronturlaub war, dass sie sich ihm heimlich weiter widersetzte, zumal sie irgendwann begann, fromm auszusehen. Vor allem das Kopftuch nervte ihn und genauso die religiöse Literatur. Es war eine Verwandlung in ihr vorgegangen, die auch nach dem Krieg anhielt, genauso wie der Befehlston des nun erst einmal arbeitslosen Vaters. Henri sah die Verwandlung, konnte sie aber nicht beschreiben, am ehesten noch, indem er sich ihren Blick vorstellte, in welchem die Verzweiflung unergründlicher Sanftmut gewichen war, einer Dauermilde, die bis zum Ende unerbittlich dem Geknarze ihres Ehemanns trotzte und die viel leicht verhinderte, dass der eines Tages nicht mehr aufwachte, weil das mit einem Messer in der Brust nicht so leicht ist.
    Dieser Wechsel zwischen hasserfülltem Schweigen und der Ausgabe von Befehlen mit dem antrainierten Schnarren in der Stimme war schrecklicher als die Prügel, die Schulkameraden in anderen Familien einstecken mussten, die aber wie das berühmte reinigende Gewitter berechenbar eine Phase der Entspannung einleiteten, in der das schlechte Gewissen des Schlägers das Seine beitrug, um die Stimmung wieder aufzuhellen. Wenn der Vater doch nur geschrien und geschlagen hätte, dachte Henri. Ich habe auch nicht geschrien und geschlagen. Doch ich habe geredet mit ihr und Theo, wenn geredet werden musste. Ich bin eben keiner, der viel redet.
    Er legte Sinatra auf den Plattenspieler. I did it my way.
    Das Licht vom Nachbarhaus ließ die Schneeflocken glänzen. Nun war es windstill geworden, träge schwebten sie hinab. Tagsüber, bei guter Sicht, konnte man die Gipfel der Vogesen sehen und das Rheintal, hier vom Hang der Breisgaukleinstadt Staufen.
    Henri erhob und streckte sich, wie er es immer tat, wenn er lang gesessen hatte. Er war groß, immer noch schlaksig. Er hatte viel Sport getrieben, Fußball, Tennis, zuletzt Radfahren, bis dieser wahnsinnige Amerikaner ihm ein Messer in den Oberschenkel gestochen hatte. Seitdem zog Henri sein Bein ein wenig nach, kaum sichtbar.
    Er würde schlecht schlafen in dieser Nacht, wie immer, wenn etwas Unangenehmes heranzog. Es würde unangenehm sein, wenn nicht schlimmer. Henri wusste es, er hatte einen sechsten Sinn für drohenden Ärger. Es wurde in der Tat eine schlimme Nacht, in der all die Krakententakel aus der Vergangenheit nach ihm griffen, er sich an das erinnerte, was er getan hatte und was er nie wieder ausräumen konnte. Die Vergangenheit entfernte sich nicht, sie rückte ihm immer näher, je älter er wurde.
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    Theo hatte nach dem Frühstück Radenkovi
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und Olga, das Antennenwelspärchen, mit Algen gefüttert, hatte auch noch einen Blick auf die Doppelseite seines gerade erstandenen Fachbuchs über Aquariumsfische geworfen, in dem er am Abend zuvor mehr zur Ablenkung geblättert und gelesen hatte, und war dann aufgebro chen. Er hetzte seinen schwarzen 3er- BMW über die Autobahn. Erst Richtung Stuttgart, wo er in mehreren Staus wegen Baustellen hängen blieb, dann über Karls ruhe, wo er nach Süden abbog, in Richtung Freiburg. Das Navigationssystem zeigte ihm an, wie viele Kilometer er noch vor sich hatte. Er war um acht Uhr losge
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