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Das Monster von Bozen

Das Monster von Bozen

Titel: Das Monster von Bozen
Autoren: Burkhard Rüth
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den Arm.
    ***
     
    Nachdem Mantinger unter massiver Polizeipräsenz in die Klinik gebracht worden war, stieg Vincenzo in sein Auto und wählte Giannas Nummer. »Ich komme jetzt«, sagte er monoton.
    »Vincenzo, bist du das? Ich habe schon geschlafen. Du klingst komisch. Ist was passiert? Ist dein Einsatz schiefgegangen?«
    »Nein, alles glattgelaufen. Ich komme jetzt, bis gleich.« Er fuhr los, niemand hatte ihn davon abhalten können. Er musste zu Gianna, sich zu ihr ins Bett legen, sich streicheln lassen, ihre Nähe, ihre Wärme, ihre Sanftmut spüren. Ohne es zu wissen, stand er unter Schock, niemals hätte er Auto fahren dürfen. Auf Höhe des Gardasees löste sich die Erstarrung abrupt. Ihm war, als würde sich vor ihm ein Vorhang, der jeglichen freien Blick und jegliches Geräusch unterdrückt hatte, plötzlich heben. Mit einem Schlag konnte er alles um sich herum und alles in seinem Inneren wahrnehmen.
    Er begann am ganzen Körper zu zittern, schaffte es gerade noch, einen kleinen Parkplatz anzusteuern. Noch während sein Alfa in die Parkbucht rollte, brach er in Tränen aus. In einem einzigen Moment erfasste er die Geschehnisse dieses Abends. Er begriff, dass er einen großen Fehler gemachte hatte, weil er wie von Sinnen hinter Mantinger hergerannt war, anstatt nachzudenken und nach den Vorschriften zu handeln. Nur mit ganz großem Glück war er dem Tod von der Schippe gesprungen. Und dieses Glück hatte einen Namen: Ispettore Giuseppe Marzoli, sein Kollege und Schutzengel. Geistesgegenwärtig hatte er die Situation erfasst, nachdem er, verausgabt bis zur totalen Erschöpfung, torkelnd in die Sackgasse eingebogen war. Blitzschnell hatte er reagiert, hatte seine Waffe gezogen und ohne nachzudenken auf Mantinger geschossen. Eine hundertstel Sekunde später, und Vincenzos Kopf wäre zerfetzt worden.
    Sein Tränenausbruch dauerte nicht lange, aber es war ein enormer innerer Druck, der sich auf diese Weise entlud. Er wischte sich das Gesicht ab und betrachtete es im Innenspiegel. Es kam ihm vor, als wäre er an diesem Abend um Jahre gealtert. In gewisser Weise war er das auch, denn er hatte viele Lektionen in sehr kurzer Zeit lernen müssen. Es war für ihn immer noch unbegreiflich, dass die Schöpfung Menschen wie Mantinger überhaupt zuließ. Doch weil das so war, wurde sein Verlangen, Gianna zu spüren, nur noch stärker.
    Er fuhr weiter, immer noch ausgelaugt, aber gelöster, befreit, konzentriert. Tief in der Nacht klingelte er an Giannas Wohnungstür. Sie öffnete und sah ihn aus verschlafenen Augen an. Den rosafarbenen Schlafanzug, den sie trug, hatte er noch nie an ihr gesehen. Er nahm sie in die Arme und sagte mit schwacher Stimme: »Lass uns hinlegen und schlafen. Morgen, bevor wir mit deinen Eltern die große Mailand-Runde machen, erzähle ich dir alles.«
    »Oh ja, das ist eine gute Idee. Komm.« Sie war zu müde, um sein geschwollenes Gesicht zu bemerken, zog ihn hinter sich her ins Schlafzimmer und ließ sich sofort ins Bett plumpsen. Augenblicklich schlief sie wieder ein.
    Der erschöpfte Vincenzo schaffte es noch, seine Jeans auszuziehen und das Halfter mit der Waffe beiseitezulegen, der Waffe, die ihn um ein Haar viel zu früh aus dem Leben gerissen hätte. Dann legte er sich neben Gianna, kuschelte sich mit seinem ganzen Körper bei ihr an und spürte jeden ihrer tiefen, gleichmäßigen Atemzüge. Er empfand Geborgenheit und Dankbarkeit. Er war in einer anderen, einer sicheren Welt gelandet. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich in einer Welt des Horrors, der Gewalt, der menschlichen Abgründe befunden. Jetzt war er in seinem eigenen kleinen Kosmos, geborgen, friedlich, sanft. Kurze Zeit später fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

31
     
    Vincenzos Rechnung war aufgegangen, blindlings war das Genie in die Falle getappt. Dieser Stachel saß tiefer, als Mantinger sich eingestehen mochte. Aber während des Verhörs in seinem Krankenzimmer wähnte er sich inmitten eines fachkundigen Publikums, das seine herausragenden Fähigkeiten angemessen erfassen und beurteilen konnte. Und so deckte er geradezu lustvoll jedes Detail seiner Taten auf.
    »Wissen Sie, Commissario, Typen wie Achatz sind bornierte Spießer, sie fühlen sich berufen, sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen, getrieben von einem krankhaften Gerechtigkeitswahn«, er sprach das Wort »krankhaft« aus, ohne mit der Wimper zu zucken, »einem Wahn, mit dem sie sich bloß von ihren eigenen Unzulänglichkeiten ablenken
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