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Das Mondkind (German Edition)

Das Mondkind (German Edition)

Titel: Das Mondkind (German Edition)
Autoren: Dean Koontz
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hinabsackt.
    Seltsamerweise – oder vielleicht ist das auch gar nicht so seltsam – sind er und der Hund trocken und vom Regen aus der Sprinkleranlage unberührt geblieben.
    Auf der anderen Straßenseite wirkt das Pendleton durch den dichten Schnee im Moment weniger wie ein prachtvolles Herrenhaus, sondern eher wie ein Werk primitiver Architektur im Stil von Stonehenge, nur viel größer, oder wie etwas, das die Azteken erbaut haben könnten, um darin die frisch entnommenen Herzen von Jungfrauen zu opfern. Tatsächlich kann Crispin, obwohl die Stadt unter ihm so modern und Sitz vieler Hightechfirmen ist, durch den Schleier des Prunks beinah eine andere Stadt sehen, einen dicht zusammengedrängten Ort, der uralt und gefährlich und voller steinerner Götzenbilder mit unmenschlichen Gesichtern ist.
    Er ist dankbar für den Schnee, der den Anblick verbirgt.
    Harley und er folgen der Shadow Street den Shadow Hill hinunter und bleiben dabei auf dem Bürgersteig. Bald werden Feuerwehrfahrzeuge über die Fahrspuren in östliche Richtung brausen.
    Die Schneeflocken sind kleiner als die von der Größe eines Silberdollars, mit denen der Schneefall begonnen hat, aber immer noch groß – filigrane Hieroglyphen von der Größe eines Zehncentstücks, jede von ihnen voller Bedeutung, aber sie wirbeln zu schnell vorbei, als dass man sie entziffern könnte.
    Ein schwaches Miauen erinnert Crispin an etwas, und als er hinunterblickt, sieht er die winzige Katze, seinen Avatar; die Krallen der Vorderpfoten sind über den Rand seiner Jackentasche gehakt und der kleine Kopf schaut heraus. Die Katze betrachtet den Schnee anscheinend voller Verwunderung.
    Für einen Moment scheinen die herabfallenden Flocken zu stocken, als seien sie ein Spezialeffekt und die Maschine, die ihn erzeugt, hätte eine Sekunde lang einen Stromausfall gehabt, doch dann fallen sie wieder so gleichmäßig und anmutig wie zuvor. Crispin hat den Verdacht, im Moment des Stockens hätte jemand bei Broderick’s den Kunstschnee eingeschaltet, der den ganzen Tag auf das Modell des Kaufhauses im Mittelpunkt der Spielwarenabteilung hinabrieseln wird. Von Zeit zu Zeit kann es vorkommen, dass dieser Welt die Harmonie verloren geht, und dann muss man die Dinge wieder aufeinander abstimmen.

19
    Sie kaufen gegen Barzahlung einen Gebrauchtwagen. Er ist noch zu jung, um zu fahren, aber sie ist mit ihren sechzehn Jahren gerade alt genug und sieht ohnehin aus wie achtzehn. Ihr Führerschein ist eine Fälschung, aber sie macht sich am Steuer trotzdem recht gut.
    Da sie nicht mehr allein ist, gibt sie die Sicherheit von Broderick’s für die wunderbare Ungewissheit der Welt dort draußen auf. Keiner von beiden hat einen Grund, noch länger in dieser Stadt zu bleiben, wo ihnen ihre Familien genommen w urden.
    Sie wissen nicht, wohin die Reise geht, aber sie wissen beide ohne jeden Zweifel, dass es irgendwo einen Ort gibt, an dem sie sein müssen.
    Mit ihrem Hund und ihrer Katze brechen sie am Weihnachtsmorgen auf, der ein idealer Zeitpunkt für einen kompletten Neubeginn zu sein scheint.
    Aufgrund ihres schrecklichen Leids ist sie seine Schwester und er ihr Bruder. Sie sind noch keine Erwachsenen, aber sie sind auch beide keine Kinder mehr. Eine mühsam erworbene Weisheit hat sich auf sie übertragen und mit ihr diese Eigenschaft, von der wahre Weisheit immer durchwirkt ist – Demut.
    Später, auf freier Strecke, wo sich nördlich der Schnellstraße Nadelwälder an Hängen hinaufziehen, die auf der Südseite zu ursprünglichen Tiefebenen abfallen, fasst er für sie das Wichtigste, was sie gelernt haben, in Worte, und vielleicht auch das Wichtigste, was sie jemals lernen werden.
    Die wahre Natur der Welt ist verschleiert, und wenn man einen hellen Lichtstrahl darauf richtet, kann man diese Wahrheit nicht aufdecken; sie schmilzt gemeinsam mit den Schatten dahin, in die sie gehüllt war. Die Wahrheit ist so überwältigend, dass wir ihren unverhüllten Anblick nicht ertragen, und daher ist es uns bestimmt, sie nur am Rande unseres Blickfeldes flüchtig wahrzunehmen. Wenn deine Selenlandschaft durch Furcht oder Zweifel oder Zorn verfinstert ist, bist du blind für jede Wahrheit. Aber wenn deine Seelenlandschaft durch Gewissheit und Arroganz zu hell ist, bist du schneeblind und gleichermaßen unfähig zu sehen, was vor dir liegt. Nur das mondhelle Gemüt erlaubt uns Verwunderung, und nur im Bann der Verwunderung kannst du das komplizierte Gewebe der Welt sehen, von dem du nichts
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