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Das Mondkind (German Edition)

Das Mondkind (German Edition)

Titel: Das Mondkind (German Edition)
Autoren: Dean Koontz
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    Crispin schlägt sich in der Stadt allein durch. Er ist ein Junge von zwölf Jahren, ein verwilderter Streuner, und hat keinen Freund außer Harley, doch Harley spricht nicht.
    Freundschaft ist nicht auf Gespräche angewiesen. Manch mal erfolgt die wichtigste Verständigung nicht von Mund zu Ohr, sondern von Herz zu Herz.
    Harley kann nicht sprechen, weil er ein Hund ist. Er versteht viele Wörter, aber er ist nicht in der Lage, welche zu bilden. Er kann bellen, aber er tut es nicht. Er knurrt auch nicht.
    Stille ist für Harley, was Musik für eine Harfe ist. Er strahlt sie in Glissando-Passagen und Arpeggios aus, die für Crispin melodisch klingen. Der Junge hat in seinen wenigen Jahren schon zu viel gehört. Ruhe ist eine Symphonie für ihn und die tiefe Stille an jedem verstummten Ort ein Choral.
    Diese Großstadt ist, wie alle anderen, ein Reich, in dem Lärm herrscht. Es rasselt, poltert und pocht. Es surrt und quietscht, zischt und brüllt. Es klappert, tutet, läutet, bimmelt, klickt, knackt, knirscht, knallt, scheppert und rumpelt.
    Doch selbst in diesem Orkan von Geräuschen gibt es stille Zufluchten. Auf den weitläufigen Rasenflächen des Friedhofs zur heiligen Maria Salome, zwischen hohen Kiefern und Zedern, die wie Prozessionen von Mönchen in ihren Kutten wirken, führen konzentrische Kreise aus Granitgrabsteinen zu Urnenwänden unter freiem Himmel, wo die Asche der Toten hinter Bronzetafeln bestattet ist. Die zweieinhalb Meter hohen freistehenden Mauern sind angeordnet wie die Speichen eines Rades. In jeder windstillen Nacht dämpfen die imposanten Nadelbäume von Maria Salome die Stimme der Stadt, und das Rad mit den gemauerten Speichen schluckt sie gänzlich.
    An der Radnabe, wo sich die Speichen treffen, befindet sich ein rundes Rasenstück. Eine große runde Platte aus grauem Granit in seiner Mitte dient als Bank. Hier sitzt das Kind Crispin manchmal im Mondschein, bis die Stille seine Seele besänftigt hat.
    Dann ziehen er und Harley auf das Gras um, wo der Junge seine Schlafmatte ausrollt. Da sich in sein Gewissen kein Schuldbewusstsein krallt, schläft der Hund den Schlaf eines Unschuldigen. Der Junge ist nicht so gut dran.
    Crispin leidet unter Albträumen. Sie rühren von Erinnerungen her.
    Harley scheint davon zu träumen, ungehindert herumzurennen, denn seine Zehen spreizen sich und seine Pfoten zittern, während er über die Wiesen seiner Fantasie saust. Er winselt nicht, sondern gibt fiepende kleine Laute der Freude von sich.
    Einmal, als der Junge zehn war, wachte er weit nach Mitternacht auf und sah die silbern schimmernde Gestalt einer Frau in einem langen Gewand. Sie näherte sich zwischen zwei Urnenwänden und schien nicht zu laufen, sondern eher wie eine Schlittschuhläuferin auf Eis dahinzugleiten.
    Crispin setzte sich furchtsam auf, weil die Frau keine Substanz besaß. Vom Mond beschienene Gegenstände hinter ihr blieben durch sie hindurch sichtbar.
    Sie lächelte nicht und hatte auch nichts Bedrohliches an sich. Ihr Gesichtsausdruck war feierlich.
    Etwa zwei Meter vor ihnen kam sie schlitternd zum Stehen, ihre nackten Füße einige Zentimeter über dem Gras. Einen langen Moment blickte sie auf die beiden hinab.
    Crispin hatte das Gefühl, er sollte mit ihr sprechen. Aber er konnte es nicht.
    Der Junge erhob sich nur halb, doch Harley richtete sich auf alle viere auf. Offensichtlich sah auch der Hund die Frau. Er wedelte mit dem Schwanz.
    Als sie an ihnen vor über ging, roch Crispin den Duft parfümierter Salbe. Harley schnupperte mit sichtlichem Genuss.
    Die Frau verflüchtigte sich wie ein Nebelphantom, das auf einen warmen Luftstrom trifft.
    Im ersten Moment glaubte Crispin, sie müsse ein Geist sein, der auf diesem Gräberfeld herumspuke. Später fragte er sich, ob er nicht eher Zeuge einer Erscheinung des Geistes der heiligen Maria Salome gewesen war, nach der der Friedhof benannt war.
    Schon die letzten drei Jahre, seit er neun war, hat sich der Junge mit Grips und Mut in der Stadt durchgeschlagen. Nur selten hat er in dieser Zeit menschliche Kameradschaft oder Wohltätigkeit erfahren.
    Er verbringt nicht jede Nacht auf dem Friedhof. Er schläft an vielen Orten, um jede Routine zu vermeiden, die ihn anfällig für seine Entdeckung machen könnte.
    An gewöhnlicheren Orten als Friedhöfen sehen er und der Hund oft ungewöhnliche Dinge. Aber nicht all ihre Entdeckungen sind übernatürlich. Die meisten sind so real wie Sonnenschein und Sternenlicht, und manche dieser Dinge
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