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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer
Autoren: Inge Lempke
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auf einmal stärker und stärker ein ganz eigenartiges Gefühl wahr, ein äußerst zwiegespaltenes Gefühl: auf der einen Seite etwas wie eine massive Erschütterung, eine Art Trauma, das von ganz unten her von einem namenlosen Grauen genährt wurde. Doch auf der anderen Seite eine kaum fassbare Verheißung, die mehr eine vage Ahnung war, als dass sie einen konkreten Inhalt gehabt hätte. Verheißung. Wie kam sie auf so ein komisches Wort? Verheißung von was?
    „Mama, noch mehr Eis!“ , verlangte Hannah energisch und schlug mit dem Löffel ein paar Mal in ihr Glasschälchen. Das harte, durchdringende Geräusch bohrte sich wie dünne Nadeln in Rikes Hirn.
    „Hörst du wohl auf damit!“, herrschte sie ihre Tochter an.
    Hannah ließ den Löffel klappernd in den Teller fallen, während sich ihr Mund bedrohlich verzog. Aber noch bevor sie in Tränen ausbrechen konnte, war Rike aufgesprungen, hatte ihre Tochter aus dem Hochstuhl gehoben und beschwichtigte sie mit der sanftesten Stimme, die ihr zur Verfügung stand: „Weißt du was, mein kleines Prinzesschen? Du holst jetzt mal die gekochten Eier und dann färben wir sie ganz toll bunt, damit der Osterhase sie verstecken kann.“
    Die Erwähnung des Osterhasen half. Hannah vergaß zu weinen und Eis zu essen und lief nach nebenan, um die Eier zu holen. Beim anschließenden Färben ve rgaß auch Rike ab und zu, dass ihr jetzt bereits sechs Stunden ihres Lebens abhanden gekommen waren, und dass sie keine Idee hatte, wie sie darauf reagieren sollte.
    Als sie abends neben Achim im Bett lag, unternahm sie den dritten Anlauf, ihm von den u ngeheuerlichen Vorfällen zu erzählen, aber ihr fielen rund hundert Gründe ein, warum sie es besser nicht tat. Und nicht zuletzt war da ein völlig diffuses Gefühl, das ihr riet, mit absolut niemandem darüber zu sprechen.
    Stattdessen lag sie stundenlang wach neben einem dezent schnarchenden Achim und ze rbrach sich den Kopf über unerklärliche Zeitaussetzer.
    Am nächsten Morgen, es war Karfreitag, fiel es ihr schwer, aus dem Bett zu kommen. Ihre Augen schienen sich nicht öffnen zu wollen, und als dann auch noch jemand hartnäckig ve rsuchte, sie zu küssen, verlor sie kurzzeitig die Fassung. Sie schob Achim beiseite, kletterte aus dem Bett, schloss sich im Bad ein, weinte sich fünf Minuten lang den Druck von der Seele, ging dann in die Küche und machte Frühstück.
    Zehn Minuten später tauchte Achim auf. Als er sie mit verweintem Gesicht am K üchentisch sitzen sah, ging er neben ihr in die Hocke, nahm ihre linke Hand, hielt sie fest und fragte: „Rike, um Himmelswillen, was ist denn los?“
    Rike seufzte einmal tief auf, umklammerte mit der rechten Hand ihre Kaffeetasse, den Blick in das Marm eladenglas gebohrt, und beinah, wirklich beinah, hätte sie erzählt, was passiert war, aber dann überwältigte sie wieder das Gefühl, dass sie auf keinen Fall darüber reden dürfe .
    Sie seufzte noch einmal und befreite ihre Hand aus Achims Griff. „Ach, es geht schon wieder. Ich dachte vorhin: es ist mir zu viel, ich hab zu viele Leute am Wochenende eingeladen! Das scha ffe ich nicht!“
    „Aber Schatz, das ist doch gar kein Problem“, versicherte Achim, setzte sich auf seinen Stuhl und nahm sich ein knusprig aufgebackenes Brötchen. „Du kannst die Wolters ja wieder ausl aden.“
    „Das will ich aber nicht!“, widersprach Rike. „Vielleicht kannst du mir ein bisschen helfen!“
    „Sicher“, beeilte sich Achim zu sagen, aber er sah an ihr vorbei, und begeistert klang es auch nicht.
     
    Am Ostersonntag, mittags, nachdem Hannah im Garten Ostereier gesucht und gefunden hatte, saß die Familie erwartungsvoll um den großen Esstisch herum: Rikes Mutter, die wieder kaum etwas essen würde, ihr Vater, dem der Braten mit Sicherheit nicht fett und saftig genug war, Onkel Dietmar, der ältere Bruder ihrer Mutter, der auf keinen Fall Erbsen mochte, Tante Monika, die in den letzten Jahren 25 Kilo zugenommen hatte und alle in ihrer Umgebung für unterernährt und/oder magersüchtig hielt, Cousine Alexandra mit Mann und deren einziger, sechsjähriger Sohn Kai, der mit beunruhigend stillem Temperament ausgestattet war.
    Rike servierte Rinderbraten, und alle ließen es sich (mehr oder weniger) schmecken. Ihr V ater merkte an, das Fleisch sei ein bisschen trocken, Onkel Dietmar gab bekannt, dass er auf keinen Fall den Brokkoli mochte, und Tante Monika, die ein weit fallendes, grüngemustertes Polyesterkleid trug, fand, dass sowohl Hannah
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