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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer
Autoren: Inge Lempke
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Dielenbrettern zu erkennen, rund um ein riesiges, viereckiges Loch im Fußboden herum, durch das das blaue Wesen hindurchgewachsen zu sein schien. Vom Keller aus. Vom Haus auf der Weide aus.
    Wie sollte sie mit einem so riesigen, fremdartigen Ding fertig werden? Sie ging noch näher heran. Die Wand aus himmelblau leuchtender Substanz war keine 15 Zentimeter mehr von ihrem Gesicht entfernt. Sie hatte keine Angst. Wieso auch. Sie wusste plöt zlich, dass Isis ihr bereits mehrfach das Leben gerettet hatte.
    Und ehe sie sich versah, hatte sie die Arme ein wenig erhoben und die Handflächen auf die blaue Wand gedrückt, die sich kühl und elastisch anfühlte. In dem Auge nblick, in dem Rike sie berührte, schossen von allen Seiten winzige Blitze auf ihre Hände zu, bohrten sich wie Nadelspitzen in die Handflächen - und vorübergehend verlor Rike die Verbindung zu ihrer Welt.
    Eine andere Welt. Sehr weit weg. Überall blaues Licht. Spannung. Entladung. Kommunikat ion auf subatomarer Ebene. Wie grässlich fremdartig! Große Kälte und gleichzeitig große Hitze. Eine völlig unverständliche Welt.
    Doch plötzlich ein vertrautes Gefühl: Sehnsucht, ein geradezu menschliches Verla ngen nach Kontakt zu seinesgleichen. Wird hier etwas gebaut? Ein Sender vielleicht? Das ist nicht klar. Das ist auch nicht wichtig.
    Isis braucht Sicherheit, braucht Hilfe. Die Bilder verändern sich, Johanns Gesicht taucht auf. Er hilft ihr, fast 200 Jahre lang. Jetzt wird er zum Sicherheitsrisiko. Er bringt immer öfter neugierige Menschen mit ins Haus. Außerdem reden die Leute über sein Aussehen.
    Isis braucht einen neuen Verbündeten. Einen starken, mutigen und klugen Verbündeten. Eine Frau.
    Und Isis entschied sich für Rike.
    Rike versuchte sich zu wehren, versuchte, von dem blauen Ding wegzukommen, die Hände herunterzunehmen, zu fliehen. Doch ,Isis‘ hielt ihre Hände fest, wie ein gewaltiger Magnet zwei Eisenspäne festhält. Die Blitze bohrten sich in ihre Handflächen, jagten durch ihre Arme, zuckten durch ihren ganzen Körper, dass Rike den Kopf in den Nacken warf und aufschrie. Und schon durchrieselte sie ein Energieschauer von den Füßen bis zum Kopf, der jede Zelle in ihrem Körper, in ihrem Hirn anders auszurichten schien.
    Zuerst tat es weh. Aber plötzlich erlosch jeder Schmerz, hinweggewaschen von blauem Licht, das Energie bis ins Innere jeden Atoms trug. Es war, als straffe sich ihr Körper, ihr Geist und sogar ihre Seele. Sie fühlte sich in jeder Hinsicht größer, wie neugeboren und voller Zuve rsicht. Sie fühlte sich stark, geradezu mächtig. Geradezu unsterblich.
    Dann ließ Isis ihre Hände los. Rike taumelte ein paar Schritte rückwärts. Und trot zdem war sie noch mit dem Wesen aus der fremden Welt verbunden. Auf ewig. Sie durchschaute jetzt alle Zusammenhänge. Nicht das Schicksal, nicht Gott hatte sie auserwählt. Nicht höhere Mächte hatten Gerechtigkeit für die von Johann Ermordeten gefordert. Nicht Johann hatte die Fäden gezogen.
    Rike verschloss sorgfältig die mittlere Tür, begab sich mit den Schlüsseln ins Woh nzimmer, befestigte alle fünf wieder an der Magnetleiste unterm Sofa und setzte sich. Sie breitete die Arme auf der Rücklehne aus und sah aus einem der Fenster, das offen stand und vor dem ganz sacht einer der ausladenden Äste der Ulme auf und ab wippte. Es roch nach frisch gemähtem Gras, ein paar Vögel sangen im Garten, und im Haus herrschte Stille. Eine große Stille.
    Eine genauso große Ruhe erfüllte Rike. Sie hatte nun eine wichtige Aufgabe, der sie mit aller Sorgfalt nachgehen sollte: sie musste dafür sorgen, das s ,Isis‘ genug Energie bekam und nicht in ihrem Wachstum gestört wurde. Im Gegenzug erhielt sie ein langes, ein sehr langes Leben. Denn sie würde nicht die gleichen Fehler machen wie Johann.
    Ja, sie war eine junge, attrakt ive, steinreiche Witwe, der die Welt offen stand. Es gab so viel zu entdecken, zu lernen, zu genießen. Wie wäre es beispielsweise mit einem Haus an der Mittelmeerküste, in der Nähe von Neapel, in dem sie ihre Sommer verbringen und herrliche Bilder malen konnte? Und in den Wintern würde sie Tiermedizin studieren. Oder doch lieber Kunstgeschichte? Sie hatte die Wahl.
    Sie konnte wählen, was sie wollte. Bis auf eins: Kinder konnte sie nicht wählen. Das ging nicht mehr. Und vielleicht war es besser so. Auf den Schmerz, ein Kind zu verlieren, mochte sie getrost verzichten. Sie würde sich eben auf andere Dinge ko nzentrieren, auf schöne Dinge. Sie
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