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Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer
Autoren: Inge Lempke
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haben!
    Rike sprang auf (wobei ihr ein wenig schwindlig im Kopf wurde), lief um den Tisch herum, umarmte Hannah und drückte sie an sich. Was hätte nicht alles passieren können, während sie ohne Bewusstsein war! Hannah hätte beim Herausklettern vom Hochstuhl fallen und sich den Arm brechen können! Sie hätte schreiend mit gebrochenem Arm nach draußen auf die Str aße laufen können, nur um dort von einem Auto überfahren zu werden!
    Dass das alles nicht geschehen war und dass Hannah auch nicht wirkte, als hätte sie einen Schock fürs Leben bekommen (so plötzlich und unverständlich von der Mutter ve rlassen) konnte nur bedeuten, dass Rike höchstens ein paar Minuten abwesend gewesen war, höchstens, denn sonst hätte Hannah gewiss nicht mehr mit diesem staunenden Gesicht in ihrem Stuhl gesessen!
    Rike ließ ihre Tochter, die sich gegen die Umarmung zu wehren begann, los, und sah hinter sich auf ihre hübsch bemalte Küchenuhr. Ein Stich ging durch ihr Herz, als hä tte jemand mit einem Messer zugestochen. Es war zehn vor fünf! Das konnte doch nicht stimmen! Es konnten doch nicht über vier Stunden vergangen sein!
    Ihr Blick fiel auf die Fußbodenfliesen, die von der Sonne beschienen wurden, aber jetzt nur in schmalem Streifen und aus völlig anderer Richtung. Und dann sah sie noch etwas: die Reste Eis, die sich vor dem Zwischenfall auf Hannahs und ihrem Teller befunden hatten, waren nicht nur geschmolzen, sondern stark angetrocknet.
    Rike musste sich an der Tischkante festhalten, so schwindlig war ihr. Als der Schwindel a bebbte, tastete sie sich am Tisch entlang zu ihrem Stuhl und ließ sich darauf niederplumpsen.
    Vier Stunden ... vier Stunden! Es war einfach nicht möglich, dass Hannah vier Stu nden reglos am Tisch gesessen hatte! Sie hätte zumindest versucht, vom Stuhl zu klettern, sie wäre in herzzerreißendes Gebrüll ausgebrochen, und irgendwann hätte sie in ihrer Not vielleicht mit Gegenständen um sich geworfen!
    Rike rieb sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Es war absolut unerklärlich, wie Hannah sich verhalten hatte, vollkommen unerklärlich ... es sei denn -
    Schlagartig tauchte die einzige Erklärung in ihrem Kopf auf, die es für Hannahs Verhalten g eben konnte.
    „Sag mal, Hannah-Schätzchen“ , begann sie, als plötzlich ein extremer Widerwille weiterzureden ihr geradezu Übelkeit verursachte. Sie holte tief Luft und ignorierte das Gefühl. „Was hat Mama gerade eben gemacht, ich meine, bevor ich aufgestanden bin, was hab ich da gemacht?“
    „Eis geesst“ , antwortete Hannah und guckte verständnislos.
    „ Das heißt ,Eis gegessen‘“, verbesserte Rike automatisch und hakte schnell nach, bevor der Brechreiz zu stark wurde. „Ja, ich hab Eis gegessen. Und dann? Hab ich ein bisschen geschlafen?“
    „Nee!“ , lachte Hannah. Sie schien das für ein lustiges Fragespiel zu halten und klatschte sogar einmal in die Hände. „Du hast Hannah drückt!“ Plötzlich leuchteten ihre blauen Augen auf und sie rief: „Eis haben!“
    „Sicher, kriegst du.“ Rike rang sich ein Lächeln ab, stand auf, holte noch eine kleine Portion Eis für ihre Tochter und setzte sich wieder. Und während Hannah genüsslich Eis lutschte, überlegte Rike hin und her, ob sie ihre Tochter danach fragen solle, ob sie vorhin etwas ,Komisches‘ gespürt habe.
    Nein, eigentlich wollte sie das nicht. Und Hannah würde überhaupt nicht verstehen, was ihre Mutter meinte. Sie konnte nicht einmal die Uhr lesen, und Kinder in dem Alter hatten sowieso ein ganz anderes Zeitgefühl. Vielleicht hatte Hannah ja tatsächlich kurz vor dem Zwischenfall ein ohrenbetäubendes Rauschen gehört oder lauter weißlich verschwommene Dinge vor Augen gesehen. Aber sollte sie sie wirklich danach fragen? Dem Kind schien ja gar nicht bewusst zu sein, dass etwas Ungewöhnliches, etwas Abnormes, etwas geradezu Grauenhaftes passiert war. Sollte sie solange in seiner Erinnerung bohren, bis es nachträglich einen Schreck bekam?
    Nein, wieso überhaupt? Eigentlich war doch alles klar: sie und ihre Tochter waren beide gleichzeitig einem seltsamen Phänomen zum Opfer gefallen. Ja, sicher, klar. Rike rieb sich über die Stirn. Nichts war klar! Vielleicht hatte sie ja doch eine furchtbare, vererbliche Gehirnkrankheit, die sie an ihre Tochter weitergegeben hatte. Aber konnte es sein, dass Mutter und Tochter in der gleichen Sekunde die gleichen Symptome entwickelten, die genau vier Stunden andauerten? Schwachsinn!
    T ief in ihrer Seele nahm Rike
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