Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das mittlere Zimmer

Das mittlere Zimmer

Titel: Das mittlere Zimmer
Autoren: Inge Lempke
Vom Netzwerk:
eilte zurück in die Küche, machte sich einen Kaffee, setzte sich mit dem Rücken zur Uhr an den Tisch und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Das gelang ihr nicht. Sie mer kte, dass ihre Hände immer noch zitterten. Sie konnte nicht fassen, was ihr passiert war, sie konnte es nicht erklären, sie konnte es nicht akzeptieren. Ihr fehlten zwei Stunden Erinnerung, und das konnte keine Bewusstlosigkeit gewesen sein! Man konnte nicht im Stehen bewusstlos werden! Nein, das war eher so etwas wie ... wie ein Ausfall gewesen, ja, ein Gedächtnisausfall, der ihre Muskulatur nicht betroffen hatte. Es musste sich um eine extrem seltene Krankheit handeln, die einen Namen hatte, und es würde irgendwo auf der Welt einen Nervenspezialisten geben, dem sie bekannt war!
    Rike schaute zur Spüle hinüber und fühlte sich keineswegs besser mit ihrer Erklärung. Die Frage war doch: konnte so ein Ausfall jederzeit wieder auftreten, und welche Folgen hatte er?
    Sie nahm noch einen Schluck Kaffee und musterte eine Weile die Hand, die die Ta sse hielt. Schöne Hände hatte sie nicht. Zu breit, die Finger zu kurz, die Nägel rissen dauernd ein. Eigentlich sollte sie Gummihandschuhe anziehen, wenn sie mit Wasser arbeitete, aber -
    Wieso fiel ihr jetzt erst auf, dass mit ihren Händen etwas nicht stimmte?! Sie hatten zwei Stunden im Wasser gelegen - wieso war die Haut nicht aufgeweicht, wieso waren die Finge rkuppen nicht verschrumpelt? Wieso nicht?! Wieso war die Holzschale aufgequollen, ihre Hände aber nicht?! Verlor sie den Verstand?!
    Rike stellte erschüttert die Tasse ab. Das Phänomen der nicht aufg eweichten Hände konnte doch nichts mit einer Gehirnkrankheit zu tun haben! Oder doch? Und wenn nicht, womit dann?
    Was für ein Glück, dass Hannah während der ganzen Zeit geschlafen hatte! Was hätte sie g emacht, wenn sie an der Spüle eine Mutter vorgefunden hätte, die nicht ansprechbar war?! Vielleicht wäre sie in Panik aus dem Haus und auf die Straße gelaufen und unter die riesigen Räder eines vorüberrasenden Lastwagens geraten!
    Rike stand mit weichen Knien auf, ging mit zittrigen Beinen ins Wohnzimmer, riss einen Fl ügel der Terrassentür auf und holte ein paar Mal tief Luft. Ein kühler Wind fegte ins Zimmer. Dunkelgraue Wolken segelten zügig über das Haus, und Rikes Verstand suchte verzweifelt nach einer Lösung. Was sollte sie tun? Sollte sie Achim erzählen, was passiert war? Ihren Eltern? Ihrem Hausarzt?
    Etwas in ihr riet ihr, die Pferde nicht scheu zu machen. Wie gut, dass das Wochenende vor der Tür stand, sie würde Achim nicht von der Seite weichen, damit sie durchgehend unter Beobachtung war. Und am Montag würde sie einen Neurologen aufsuchen.
    Achim erzählte sie nichts von dem Vorfall. Am Samstag und Sonntag trat auch nichts Ähnliches mehr auf.
    Am Montag früh, nachdem Achim das Haus verlassen hatte, kam Rike das, was ihr am Fre itag passiert war, sehr unwirklich vor. Hatte sie das alles nicht vielleicht doch nur geträumt? Jedenfalls verschob sie den Besuch beim Neurologen auf unbestimmte Zeit. Sie fühlte sich nicht krank, und sicher würde so ein seltsamer Zwischenfall (oder Tagtraum oder Stresssyndrom oder was auch immer) nie wieder auftreten.
    Im Laufe der Woche fuhr sie mit Hannah noch einmal zum Gartencenter, um Primeln, Narzi ssen, Tulpen und Hyazinthen zu kaufen, und pflanzte sie mit Hannahs ,Hilfe‘ in den Vorgarten.
    Am Samstag machten sie einen Ausflug in den Zoo und am Sonntagnachmittag einen Sp aziergang durch die ans Haus grenzenden Wiesen, Felder und Wälder. Auf einem aufgeweichten Feldweg begegnete ihnen das Ehepaar Wolter, ihre Nachbarn zur Linken, die während der Renovierungsarbeiten zwei- oder dreimal kurz im Haus vorbeigeschaut und jedes Mal ein paar Stücke selbstgebackenen Kuchen mitgebracht hatten.
    Dr. Johann Wolter, Tierarzt von Beruf und nicht mehr der Jüngste, begrüßte sie so herzlich, als seien sie seit Jahren die besten Freunde, was Achim ein wenig zu irr itieren schien. Aber Rike mochte des Doktors Herzlichkeit und seine bernsteinfarbenen Augen, die fast immer zu lachen schienen, egal, was er sagte. An diesem kühlen Tag trug er eine lange, dicke, braune Lederjacke und einen karierten Hut auf dem grauhaarigen Kopf, sowie eine riesige, längst aus der Mode gekommene Brille im Gesicht.
    Achim begann gleich mit Frau Wolter zu plaudern, einer rustikal gekleideten, rundl ichen Frau weit in den Fünfzigern, deren dunkles Haar von vielen weißen Strähnen durchzogen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher