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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid
Autoren: Terry Pratchett
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zu geben. Anscheinend will er seinem Vater nacheifern, dachte sie. Aber der alte Baron hatte ein Gespür dafür. Er redete auf Augenhöhe mit den Leuten. Nicht von oben herab, wie von einem Podium. Sie antwortete: »Danke sehr, der Herr.«
    So weit, so gut. Doch jetzt öffnete sich die Tür der Kutsche ein zweites Mal, und ein weißes Füßlein senkte sich hinunter auf den Feuerstein. Das war sie: Lappalia – oder Larifaria? Tiffany wusste natürlich ganz genau, dass sie Lätitia hieß, aber eine klitzekleine, noch dazu unausgesprochene Bosheit musste ihr doch wohl erlaubt sein. Lätitia! Was für ein Name. Läppisch, lästig, lächerlich. Und wie kam diese Lätitia überhaupt dazu, Roland vom Jäte-Jahrmarkt fernzuhalten? Er gehörte dorthin! Sein Vater hätte sich den Besuch sicher nicht nehmen lassen, wenn er dazu imstande gewesen wäre! Und dann noch diese Schuhe, beziehungsweise Schühchen! So weiß und zierlich! Wie lange würden die wohl halten, wenn ihre Trägerin einer geregelten Arbeit nachgehen müsste? Tiffany zügelte sich: Eine kleine Bosheit musste reichen.
    Lätitia warf einen furchtsamen Blick auf Tiffany und die Menge und sagte zu Roland: »Lass uns fahren, ja? Mutter wird schon ungeduldig.«
    Die Kutsche rollte weiter, der Leierkastenmann zog ab, die Sonne ging unter. Einige Menschen verweilten noch ein wenig in den warmen Schatten der Abenddämmerung, aber Tiffany flog allein nach Haus – so hoch, dass nur die Fledermäuse und Eulen ihr Gesicht sehen konnten.

2
    Katzenmusik
    Sie bekam nur eine Stunde Schlaf, bevor der Alptraum begann.
    Was ihr von dieser Nacht am besten in Erinnerung bleiben sollte, war das dumpfe Poltern, mit dem Herrn Mickers Kopf gegen Wand und Geländer schlug, als sie ihn gewaltsam aus dem Bett zerrte und an seinem speckigen Nachthemd die Treppe hinunterschleifte. Er war ein massiger Mann und schlief noch halb. Seine andere Hälfte war stockbetrunken.
    Sie musste unbedingt dafür sorgen, dass er keine Sekunde zum Nachdenken kam, während sie ihn wie einen Sack hinter sich herzog. Er war zwar drei Mal so schwer wie sie, aber sie kannte das Hebelgesetz. Als Hexe musste man schwer heben können. Sonst könnte man einem Kranken ja nie das Bett frisch beziehen. Nachdem Tiffany ihn über die letzten Stufen in die winzige Küche der Kate hatte rutschen lassen, übergab er sich auf den Fußboden.
    Das geschah ihm ganz recht – in einer stinkenden Pfütze aus Erbrochenem zu liegen war noch das Mindeste, was dieser Kerl verdient hatte. Doch jetzt hieß es schnell handeln, bevor er wieder zu sich kam.
    Als Frau Micker, eine kleine graue Maus, laut schreiend vor Entsetzen ins Wirtshaus gestürzt war und von den brutalen Schlägen ihres Mannes berichtete, hatte Tiffanys Vater sofort seine Tochter aus dem Bett holen lassen. Herr Weh war ein sehr vorausschauender Mann, der gewusst haben musste, dass die bierselige Stimmung am Ende eines Jahrmarkttages blitzschnell und auf verhängnisvolle Weise ins Gegenteil umschlagen konnte. Noch während Tiffany auf ihrem Besen zu den Mickers eilte, hörte sie bereits die ersten Klänge der Katzenmusik.
    Sie gab dem Mann eine Ohrfeige. »Hören Sie das?«, fuhr sie ihn an und zeigte auf das dunkle Fenster. »Hören Sie? Die wollen Ihnen eine Katzenmusik bringen. Die kommen, um Ihnen den Marsch zu blasen, Herr Micker. Sie haben Stöcke! Und Steine! Und Fäuste! Sie haben sich mit allem bewaffnet, was nicht niet- und nagelfest ist, aber vor allem haben sie ihre Fäuste. Das Kind ist tot, Herr Micker. Sie haben Ihre Tochter so schwer verprügelt, dass sie ihr Kind verloren hat. Ihre Frau sitzt bei den Dorffrauen und weint sich aus, und alle wissen, dass Sie es getan haben. Alle .«
    Sie starrte in seine blutunterlaufenen Augen. Er hatte automatisch die Hände geballt, weil er ein Mann war, der mit seinen Fäusten dachte. Bald würde er versuchen, sie zu gebrauchen – zuschlagen war leichter als nachdenken. Herr Micker hatte sich schon immer mit den Fäusten durchs Leben geprügelt.
    Die Katzenmusik kam nur langsam näher. Es ist eben schwierig, in finsterer Nacht quer über die Felder zu laufen, wenn man zu tief ins Glas geschaut hat. Da kann die rechtschaffene Empörung, die einen antreibt, noch so groß sein. Hoffentlich gingen die Männer nicht in die Scheune. Dann würden sie nicht lange fackeln und Herrn Micker an Ort und Stelle aufknüpfen – wenn er Glück hatte und sie ihm sonst nichts antaten. Ein Blick in die Scheune hatte Tiffany genügt,
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