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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Autoren: Dubravka Ugresic
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würde. Denn Amsterdam, das ich kaum kannte, war für mich bereits eine Parallelwelt. Ich erlebte es wie einen Traum, der sich auf seine Weise mit meiner Wirklichkeit reimte. Ich enträtselte die Stadt, so als deutete ich meine Träume.

    Am faszinierendsten war der Sand. Manchmal stand ich vor den Trümmern eines Abrisshauses und betrachtete wie verzaubert die morschen Holzbalken, das hässliche Loch im Sand voller Wasser, das aus der Tiefe an die Oberfläche drang. Ich sah zu, wie die Arbeiter das Straßenpflaster reparierten, die Steine aus dem Sand nahmen, ihn glätteten und die Steine wieder einsetzten. Der Sand war das metaphorische und reale Fundament der Stadt, und ich erlebte ihn fast körperlich. Ständig hatte ich das Gefühl, Sandstaub mit mir herumzutragen, im Mund, im Haar, in der Nase.
    Mich verblüffte die Menge der Zeichen, Signale, »Fingerabdrücke«, als hätte jeder Bewohner Amsterdams irgendwo seine Unterschrift hinterlassen. Diese Signale waren kindlichund darum rührend wie die Brotkrümel, die Hänsel und Gretel ausstreuen, um den Heimweg zu finden. Mir schien, dass diese vielen Signale – Katzenfiguren, die die Fassaden alter Häuser hinaufkletterten; Fenster, in denen Fähnchen, Plakate, sogar Familienfotos ausgestellt waren, Aufschriften und Parolen, Spielsachen, Plüschteddys, afrikanische Masken, indonesische Wajang-Puppen, Schiffchen, kleine Nachbildungen Amsterdamer Häuser – nur eine Botschaft aussandten: »Ich wohne hier, he, ich wohne hier.« Mir schien, dass all diese »Stillleben«, »Ikebanas« und »Installationen« in den Fenstern – wie zum Beispiel eine billige Vase von Ikea und darin ein kleines, für zwei Gulden bei »Xeno« gekauftes Schiff – die unbewusste Angst der Bewohner vor dem Verschwinden offenbarten. Diese Puppenhäuser in den Puppenhäusern, dieser infantile Exhibitionismus, dieses Bestreben, Fingerabdrücke im Sand zu hinterlassen, all das reimte sich irgendwie mit meiner eigenen Beklommenheit, deren Ursprung ich nicht kannte.

    Der Hauptbahnhof lag ganz in meiner Nähe. Immer öfter ertappte ich mich dabei, wie ich in der Halle auf die Fahrpläne starrte, als könne mir die Anzeigetafel die Lösung meines Problems verraten. Einmal stieg ich spontan in einen Zug nach Den Haag, spazierte durch die Stadt und kehrte zurück. Seitdem fuhr ich häufig in Städte, die mir nicht viel bedeuteten, nach Groningen und Leeuwarden im Norden, Rotterdam, Nijmegen und Eindhoven im Süden, Enschede im Osten … Ich fuhr zu nahe gelegenen Orten, Haarlem, Leiden, Utrecht. Ich fuhr zu Orten, nur weil ihre Namen klangvoll waren. Apeldoorn und Amersfoort, Breda, Tilburg und Hoorn, Hengelo und Almelo und Lelystad, dessen Name an ein Wiegenlied erinnerte. Die Niederlande waren rührend klein. Oft stieg ich am Zielbahnhof aus, spazierte nur über den Bahnsteig undkehrte mit dem nächsten Zug nach Amsterdam zurück. Das Zugfahren beruhigte mich. Ich sah aus dem Fenster und dachte an nichts, die holländische Ebene dämpfte meine Beklommenheit. Diese Konstante, diese horizontale Bewegung tat mir gut. Mit der Zeit gewann ich die Aufschriften lieb, die an mir vorüberflogen und die ich las wie einen Abzählreim:
Sony, Praxis, Vodafone, Nikon, Enco, JVC , Randstad, Shell, Philips, Dobbe, Ninders, Ben …
Und so, wie wir Menschen eher wegen ihrer Schwächen als wegen ihrer Tugenden lieben, so entwickelte ich mit der Zeit ein Zartgefühl für diese Landschaft der Abwesenheit, für die hellgrüne Linie des Horizonts, für die kalten nächtlichen Gefilde bei Vollmond mit Schwärmen großer weißer Gänse, die man im Dunkel erahnte, oder den gefrorenen Schatten der Kühe, die am Wegesrand standen wie gutmütige Gespenster.
    In den Zügen, auf den Bahnhöfen lernte ich die Sprache der menschlichen Einsamkeit. Ich, die umherirrte, ohne recht zu wissen, wohin und warum, entdeckte allmählich, dass ich nicht allein war. Auf einem Bahnsteig konnte ich trotz klarem Hinweis auf der Anzeige einen anderen Wartenden fragen:
    »Entschuldigen Sie, wir warten hier auf den Zug nach Rotterdam, nicht wahr?«
    »Ich weiß es nicht, tut mir Leid …«
    »Und wohin fahren Sie?«
    »Ich? Nach Rotterdam.«
    Ich musterte die Menschen in den Zügen, lauschte ihren Gesprächen, obwohl ich die Sprache nicht verstand, ich fing ihre Gerüche ein, glitt über ihre Gesichter wie über einen Computerbildschirm und merkte mir Details. Die zufälligen Bilder zogen für kürzere oder längere Zeit bei mir ein. Oft schien
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