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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Autoren: Dubravka Ugresic
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entglitten, und die Mama war weg. Plötzlich waren wir mit der Welt konfrontiert, die uns erschreckend groß und feindlich erschien. Drohend große Schuhe kamen auf uns zu, in panischer Angst krochen wir durch einen Wald von Menschenbeinen … Oft glaubte ich, wie in einem Hologramm den Schatten dieser Angst zu sehen, der die Gesichter meiner Studenten kurz verdüsterte.
In der Emigration altert man schnell und bleibt lange jung
, sagte Ana einmal, und das schien mir sehr wahr zu sein.
    Auf die Frage, was er von meinen Vorlesungen erwarte, schrieb Uroš in Großbuchstaben: DASS ICH ZU MIR KOMME . Ich hatte den Eindruck, dass dieser banale Satz und die Art, wie er ihn gebrauchte, nicht nur bedeutete
bewusst werden, zur Vernunft kommen, sich vom Schock erholen.
Als wäre er hier vielmehr in seiner wörtlichen Bedeutung zu verstehen; als setze er einen Raum voraus und einen Menschen in diesemRaum auf der Suche nach einem Weg, der ihn nach Hause, »zu sich« führt. Zunächst war ich erschüttert, dann bekam ich Angst. Ich fragte mich, ob ich bereit war, derartigen Anforderungen zu entsprechen.

5.
Holland ist eine Ebene
und mündet schließlich ins Meer,
das schließlich Holland ist

In Holland kann man nicht
bergsteigen, verdursten,
noch weniger Spuren hinterlassen
mit dem Fahrrad. Besser
wegschwimmen. Erinnerungen
sind Holland. Und keine Barriere
hält sie auf. In dem Sinne
lebe ich in Holland viel länger
als die örtlichen Wellen, die
weiterrollen ohne Adresse.
Wie diese Zeilen.
    Joseph Brodsky

    Manchmal, wenn ich im Badezimmerspiegel mein Gesicht sah, durchfuhr mich die Frage, wo ich mich eigentlich befand. Solange ich mit Goran zusammen war, hatte ich mir solche Fragen nicht gestellt. Ich hatte mir gar keine Fragen gestellt, als wäre dafür nicht Zeit genug gewesen. Jetzt war ich plötzlich in einem Übermaß an Zeit, und das machte mir Angst. Immeröfter hatte ich ein vorher nie gekanntes unangenehmes Gefühl der Erstarrung. Ich prüfte mich, so als erforschte ich mit der Zunge meine Mundhöhle, um die Empfindung zurückzuholen. Die Selbstbetäubung war stark und ließ nicht nach. Ich wusste nicht, woher diese Stumpfheit kam, noch, wann sie begonnen hatte.

    Schon bald nach dem Einzug fühlte ich mich in der Wohnung nicht mehr wohl. Das winzige Duschbad ohne Fenster mit fahler Beleuchtung und Zementboden wirkte bedrückend wie ein Zitat aus einem alten Schwarzweißfilm. Ich bemühte mich, einiges zu verbessern. Kaufte eine Kleinigkeit, eine schöne Seifenschale, ein teures, mit Klöppelspitze eingefasstes Badetuch. Ich wechselte die Beleuchtung aus. Jetzt sah man den Schmutz in den Fugen zwischen den Fliesen. In einer Nacht scheuerte ich ihn mit einer Zahnbürste weg, als wollte ich mit körperlicher Kasteiung die abstoßende Badezimmerlandschaft verändern. Die Wände in der kleinen Diele waren bis zur Hälfte graugrün gestrichen. Der Boden war mit schwarzem Linoleum ausgelegt, und damit erinnerte die Wohnung an ein Krankenhaus oder eine Strafanstalt. Ich gab mir Mühe, kaufte eine Vase, eine Lampe, ein Schwarzweißplakat mit einem New Yorker Motiv, aber die Anwesenheit dieser Dinge verstärkte nur die bedrückende Abwesenheit. Abwesenheit wovon? Das konnte ich nicht beantworten. Ich fragte mich, ob ich mich in einer anderen Umgebung besser gefühlt hätte. Dessen war ich mir nicht sicher. Ich konnte nachts, eingehüllt in Dunkelheit und eine Wolldecke, im Sessel vor dem Fenster sitzen und durch die Gitter starren, den Geräuschen lauschen und darauf warten, dass jemandes Schuhe oder eine Katze vorbeihuschten. Der Raum gehörte definitiv nicht zu mir. Allerdings gehörte ich mir auch selbst nicht.

    Die Beklommenheit in der kleinen Souterrainwohnung wuchs mit tropischer Geschwindigkeit wie die Passionsblume, die vielerorts in der Stadt an Häuserwänden und Gartenzäunen rankte. Immer öfter ertappte ich mich dabei, dass ich nach meiner Handtasche schnappte, mir den Mantel überwarf und aus der Wohnung stürzte, ohne zu wissen, wohin.
    Die Stadt, die einer Schnecke glich, einer Muschel, einer Spinnwebe, einer kostbaren Spitze, einem Roman von ungewöhnlicher Kreisstruktur, also ohne Ende, verwirrte mich. Ich verlief mich häufig, konnte mir lange nicht merken, wie die Straßen hießen, wo sie begannen und endeten. Ich ertrank in einem Wasserglas. Oft hatte ich das Gefühl, dass ich, wenn ich wie Carrolls Alice ausrutschte und in ein Loch fiele, mich in einer dritten oder vierten Parallelwelt wiederfinden
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