Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen
Autoren: Kathi Appelt
Vom Netzwerk:
seltsam ungleichen, großen und kleinen Scheren. Sie fand die Krabben wunderschön. Und alle hatten sich zu ihr gedreht und schauten sie an.
    Oh nein! , dachte sie. Signe würde die Krabben in kochendes Wasser werfen, und zwar lebendig. Ihre wunderschönen Panzer, blau und braun und weiß, würden sich erst rosa und dann rot färben. Mirjas Magen drehte sich um. Sie konnte die Krabben nicht mehr anschauen.
    Sie wandte sich ab und hastete ins Badezimmer, wo sie sich auf den Rand der Badewanne plumpsen ließ. Das kalte Porzellan drückte sich durch den Hosenboden ihres Pyjamas. Das Herz hämmerte in ihrer Brust. So hektisch und nervös wie die Scheren der Krabben. Sie packte eins der weißen Baumwollhandtücher, das noch von ihrer Urgroßmutter stammte, und biss hinein.
    Was sollte sie tun?
    Sie konnte sich nicht daran erinnern, schon jemals von einem Haufen Krabben angeschaut worden zu sein. Über ihren Rücken lief ein Schauer. Versuchten sie etwa, ihr etwas zu sagen?
    Das Nächste, was sie hörte, war ein Klopfen an der Tür.
    „Mirja, Herzchen?“, rief Signe.
    Sie musste etwas sagen. Aber was?
    „Mirja?“
    Im Badezimmer konnte sie die Krabben nicht hören. Zum Glück. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Sie holte tief Atem und stand auf, um die Tür zu öffnen. Dann hielt sie mitten in der Bewegung inne.
    Warum hatte sie früher nie verstanden, dass die Krabben lebendig gekocht wurden? Plötzlich erkannte sie, dass die Krabben ihr etwas sagen wollten: Hilfe!, schrien sie. Und diese Botschaft vernahm Mirja nun laut und deutlich.
    Woher wussten die Krabben, welches entsetzliche Schicksal sie erwartete? Aber falls sie es nicht wussten, warum riefen sie dann um Hilfe? Und sie hatten um Hilfe gerufen. Da war sich Mirja sicher. Sie legte sich das Handtuch über den Kopf und hielt die Enden unter ihrem Kinn fest.
    Sie hatte nie eine besondere Zuneigung für Krabben verspürt. Oft genug war sie von einer in die Ferse oder in den Zeh gezwickt worden, wenn sie durch das seichte Wasser am Strand watete. Aber sie war auch noch nie von einer angeschaut worden. Und ihr war früher nie aufgefallen, wie wunderhübsch ihre Panzer waren.
    Mirja setzte sich wieder auf den Badewannenrand. Sie konnte den Gedanken, dass die Krabben in kochendes Wasser geworfen wurden, nicht ertragen. Es klopfte an der Tür. Mirja wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte die Krabben nicht hören. Aber Signe sollte auch nicht glauben, dass sie krank wäre. Dann müsste sie den ganzen Tag im Bett bleiben.
    Es gab nichts Schlimmeres, als an einem Sommer-tag im Bett liegen zu müssen. Und nicht nur das: Sie musste doch auch noch Dogies Surfbretter wachsen und Mr Beauchamp helfen, seine Pflanzen zu gießen. Und was, wenn sie deswegen Dogies Lied verpassen würde? Das besondere Lied, das Dogie heute Nacht für Signe singen wollte?
    Wieder klopfte es. Mirja musste die Tür öffnen. Aber wenn sie das tat, würde sie die Krabben wieder hören.
    Aufmachen?
    Nicht aufmachen.
    Klopf, klopf, klopf.
    „Mirja?“
    Den ganzen Tag lang im Bett bleiben? Dogies Lied verpassen? Signes Antwort verpassen? Nein!
    Neinneinneinneinnein!
    „Okay, okay“, sagte sie. Sie erhob sich und lehnte sich an die Tür. Auf der anderen Seite wartete Signe mit dem Kochlöffel in der Hand. Signes strahlend weiße Haare standen ihr vom Kopf ab.
    Mirja liebte Signes Haare. Signe behauptete, ihr Haar wäre weiß geworden, als sie vierzehn Jahre alt war, kurz bevor sie Iowa verlassen hatte. Schneeweiß war es seitdem. Mit einem Mal fiel Mirja auf, dass sie Signe nie gefragt hatte, welche Farbe ihr Haar vorher gehabt hatte. War es schwarz gewesen wie ihr eigenes? Oder kastanienbraun wie Dogies?
    Lila?
    Pink?
    Grün?
    Mr Beauchamp, der ältere Herr, der auf der anderen Straßenseite wohnte, hatte Mirja erzählt, dass die russischen Meerjungfrauen, die Rusalki, grüne Haare hatten.
    Haare.
    So viele Farben.
    Rot.
    Rot wie gekochte Krabben.
    Gekochte Krabben.
    Lebendig gekocht.
    Da war er wieder. Der Hilferuf. Mirja konnte es nicht leugnen. Sie wusste, was sie gehört hatte, obwohl sie es nicht wirklich gehört hatte. Oder doch? Im Grunde genommen hatte sie nur das Klappern der Scheren gehört, aber die Botschaft hatte sie trotzdem verstanden. Sie fing an zu keuchen. Sie zerrte am Handtuch. Der Hilferuf surrte in ihrem Kopf herum und summte in ihren Ohren wie ein Schwarm Fliegen.
    „Geht es dir gut?“, fragte Signe von der anderen Seite der Tür.
    Ging es ihr gut? Sie war nicht sicher.
    Mirja
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher