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Das Meer in deinen Augen

Das Meer in deinen Augen

Titel: Das Meer in deinen Augen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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er auf die Brust. So funktionierte doch eine Herzmassage. Nichts regte sich. Kein Leben. Nur das Wasser ließ sich nicht aufhalten. Erneut würgte Benjamin, spuckte auf die Steine und brach wieder in Husten aus. Dann hielt ihn nichts mehr, er schleppte sich noch ein paar Meter am Strand entlang, geblendet von der morgendlichen Sonne. Alles drehte sich. Ohne jede Hemmung erbrac h er sich in die Gischt. Bitter schmeckte es. Mit der Brandung schwappte ihm seine eigene Kotze über die nackten Füße. Eiskalt prickelte das Meer. Es ließ ihn erzittern, bis er sich nicht mehr kontrollieren konnte und einfach nur in sich zusammenfiel. Mit letzter Kraft stützte er sich auf einen größeren Stein und klammerte sich daran, um nicht fortgespült zu werden.
    Ratsch, machte der Reißverschluss. Fertig war die Tasche gepackt. Wie jeden Dienstag ging Emma zum Jazz Dance. Ein kurzer Ausflug aus dieser tristen Altbauwohnung. Wieder war es still. Umso lauter hallte hier jeder kleine Ton wider. Der Spiegel, der an der Wand lehnte, hatte keinen Rahmen. Oben war eine Ecke abgesprungen. Wenn die Straßenbahn vorbeifuhr, wackelte er genau wie die Wände in dem alten Haus. Als es wieder ruhig war, schaute sie das Mädchen an, das ihr gegenüberstand. Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und schenkte sich selbst ein Lächeln, bevor sie das Zimmer verließ. Schnellen Schrittes ging sie durch den Flur. Erst als sie an der Haustür angelangt war, hatte ihre Mutter sie bemerkt.
    »Emma?«
    »Ich bin weg.« Sie verabschiedete sich mit einem flüchtigen Winken und zog die Tür rasch hinter sich zu. Ihr Gewissen ließ sie sonst nicht los. Sie durfte nicht daran denken, wie ihre Mutter alleine zu Hause saß. Sie wurde dann immer ganz melancholisch. Rasch ging sie zur Haltestelle. Auf dem Weg wich sie den Blicken der Jungs aus, die ihr hinterherstarrten. Eigentlich war sie gut darin, sich von der Außenwelt abzuschirmen. Stark sein, damit keiner sie verletzen konnte. Sie hatte früher nie Angst gehabt. Heute war das anders. Vor vier Tagen hatte sie sich verliebt. Idiotisch, das genau auf den Tag festzulegen – das wusste sie selbst. Aber es war das erste Mal. Vorher hatte sie es immer geschafft, dagegen anzukämpfen. Es war einfach zu gefährlich. Jetzt war er weg. Weit weg. Und plötzlich fühlte sie sich einsam. Lieben bedeutet verletzbar sein, weil man nur jemanden lieben kann, dem man vertraut, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Sie selbst hatte nie daraus gelernt. Sich immer wieder auf die gleichen, unzuverlässigen Männer eingelassen. Emmas Vater war ein erfolgloser Maler gewesen. Danach gab es da noch den Bassisten einer mäßigen Rolling-Stones-Coverband und einen Typ, der meinte, mit einem Onlineversand für Hanfprodukte ganz groß rauszukommen. Emma konnte ihr nicht helfen. Aber sich selbst konnte sie schützen. Doch jetzt hatte sie die Kontrolle verloren. Ohne ihn fehlte etwas. Früher hatte sie niemanden vermisst. Sie war nie einsam gewesen, weil sie gelernt hatte, allein zu sein. Die Straßenbahn wackelte und quietschte. Emma hatte den Blick nur starr aus dem Fenster gerichtet. Eigentlich sollte sie doch glücklich sein. Sie ertappte ihr Spiegelbild dabei, wie ihm ein kurzes Lächeln über die Lippen huschte.
    Hey, mach dich locker. Das war so ein typischer Spruch von Lilly. Daran sollte sie sich vielleicht am besten halten. Nicht mehr zweifeln. Lilly strahlte immer so viel Freude aus. Emma wünschte sich manchmal, sie könnte das auch. Guck nicht immer so ernst, Emma , hatte Oma mal gesagt, als sie ein Foto von ihrer Konfirmation angeschaut hatte. Dein Lächeln ist so schön. Du solltest es nicht verstecken.
    Das Lächeln war im Spiegelbild auf der zerkratzten Scheibe verschwunden. Die Bahn rollte über die große Brücke. Nächster Halt Rheinhalle.
    Am Jazz Dance-Kurs nahm Emma teil, seit sie sechs war. Jetzt, nach zehn Jahren, dachte sie immer noch nicht daran, aufzuhören. Natürlich hatte sie oft keine Lust. Aber dann, wenn die Musik spielte, sie sich bewegte, sie nur ihren Körper spürte und der Kopf Ruhe gab, fühlte es sich gut an. Nicht mehr, nicht weniger. Es war ja nur ein Hobby. Die Sonne hatte den Himmel rot gefärbt. Die Wolken waren klein und unbedrohlich. Emma zog den Gurt ihrer Sporttasche höher und ging auf die große Glastür zu. Sie konnte ihr verzerrtes Bild schon sehen. Die große Halle war ein trister Quader mit verspiegelten Fenstern. Immer näher kam sie und die Schatten der Bäume wanderten mit ihr
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