Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
heißen, sein Werk fortsetzen? Was für ein Werk denn?«
    »Ich weiß nur, dass ich fortführen muss, was er getan hat. Das macht ungefähr so viel Sinn wie alles andere.«
    Er wischte sich mit der rechten Hand den Schweiß aus den Augen. Was er Lyra nicht sagen konnte, war, dass er sich nach seinem Vater sehnte wie ein verirrtes Kind nach seinem Zu  hause, obwohl ihm dieser Vergleich nicht eingefallen wäre, weil Zuhause für ihn der Ort war, wo er seine Mutter beschützte, nicht wo andere ihn beschützten. Doch waren seit jenem Samstagmorgen im Supermarkt, an dem das angebliche Versteckspiel vor den Feinden so schrecklich wirklich geworden war, fünf Jahre vergangen, eine lange Zeit seines Lebens, und er dürstete geradezu danach, jemanden sagen zu hören: »Das hast du gut gemacht, mein Junge, niemand hätte es besser machen können; ich bin stolz auf dich. Jetzt ruh dich aus …«
    So sehr sehnte Will sich nach Geborgenheit, dass er sich dessen gar nicht bewusst war. Die Sehnsucht durchdrang all sein Fühlen, er konnte sie Lyra deshalb nicht erklären, doch Lyra sah sie in seinen Augen. Es war das erste Mal, dass sie so etwas sah. Wo es um Will ging, entwickelte sie eine neue Art Gespür, gleichsam als ob sie ihn schärfer sehen würde als alle ihre bisherigen Freunde. Alles an ihm war für sie deutlich, nah und unmittelbar.
    Vielleicht hätte sie ihm das auch gesagt, aber in diesem Au  genblickflog eine Hexe zu ihnen herunter.
    »Hinter uns sind Leute«, sagte sie. »Sie sind noch weit weg, kommen aber schnell näher. Soll ich hinfliegen und nach  sehen?«
    »Ja«, sagte Lyra, »aber fliege tief und halte dich versteckt, damit sie dich nicht sehen.«
    Will und Lyra standen wieder auf und marschierten auf ihren schmerzenden Füßen weiter.
    »Mir war schon oft kalt«, sagte Lyra, um sich von den Verfolgern abzulenken, »aber so heiß wie jetzt war mir noch nie. Ist es in deiner Welt auch so heiß?«
    »Nicht dort, wo ich wohne, wenigstens normalerweise nicht. Aber das Klima ändert sich. Die Sommer sind heißer als früher. Es heißt, die Menschen hätten die Atmosphäre durch  einander gebracht, indem sie Chemikalien freisetzten, und das Wetter gerate allmählich außer Kontrolle.«
    »Ja, das stimmt wirklich«, sagte Lyra, »und wir sind hier mitten drin.«
    Will war zu erschöpft und durstig, um das Gespräch fort  zusetzen, und keuchend stiegen sie in der flirrenden Hitze weiter. Pantalaimon saß als Grille auf Lyras Schulter, zu müde, um zu laufen oder zu fliegen. Die Hexen entdeckten ab und zu eine Quelle hoch in den Bergen, wo die Kinder nicht hin  kamen, und flogen hinauf, um die Flaschen nachzufüllen. Ohne Wasser hätten sie nicht lange durchgehalten, und dort, wo sie gingen, gab es keines. Quellen, die die Oberfläche er  reichten, versickerten schon bald wieder unter den Steinen.
    So marschierten sie weiter, bis es Abend wurde.
     
     
    Die Hexe, die zurückflog, um nachzusehen, wer ihnen folgte, hieß Lena Feldt. Sie flog tief über die zerklüftete Felslandschaft, und als die Felsen im Licht der untergehenden Sonne blutrot erglühten, kam sie an den kleinen, blauen See. Dort lagerte eine Abteilung Soldaten.
    Schon der erste Anblick sagte ihr mehr, als sie hatte wissen wollen; die Soldaten hatten keine Dæmonen. Und sie kamen weder aus Wills Welt noch aus der Welt von Cittàgazze, wo die Menschen ihre Dæmonen in sich trugen und trotzdem lebendig waren. Diese Soldaten ohne Dæmonen kamen aus ihrer eigenen Welt, und ihr Anblick war ungeheuerlich und Übelkeit erregend.
    Jemand trat aus einem Zelt am Seeufer. Sie sah eine Frau, eine elegante Gestalt in khakifarbenen Jagdkleidern und so voller Leben wie der goldene Affe, der neben ihr am Ufer entlangsprang. Dann erkannte sie die Frau.
    Lena Feldt verbarg sich hinter den Felsen oberhalb des Sees und beobachtete, wie Mrs. Coulter mit dem Anführer der Truppe sprach und wie die Soldaten Zelte aufstellten, Feuer machten und Wasser kochten.
    Die Hexe war damals dabei gewesen, als Serafina Pekkala die Kinder von Bolvangar gerettet hatte, und sie hätte Mrs. Coulter am liebsten gleich erschossen. Doch schien eine Art Schutzgeist seine Hand über Mrs. Coulter zu halten, denn sie stand wenige Schritte außerhalb der Reichweite des Hexenbogens, und die Hexe konnte nicht näher kommen, ohne sich zuerst unsichtbar zu machen. Dazu musste sie sich allerdings erst zehn Minuten tief konzentrieren.
    Als sie das Gefühl hatte, dass der Zauber wirkte, stieg sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher