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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer
Autoren: Philip Pullman
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es schien, als brenne die ganze Welt.
    Der Felsblock, auf dem Lee lag, war schon bald von Narben und Kratern übersät, und er spürte den Aufprall der Kugeln, die den Felsen trafen. Einmal sah er sogar, wie der Wind einer knapp über Hesters Rücken fliegenden Kugel ihr Fell hochwehte, aber Hester zuckte nicht zusammen. Und Lee hörte nicht auf zu feuern.
    Die erste Minute war besonders hitzig. Danach entstand eine Pause, in der Lee feststellte, das er verwundet war. Auf dem Fels unter seinem Gesicht war Blut, und auch seine rechte Hand und das Schloss des Gewehrs waren rot.
    Hester sah ihn an.
    »Nichts Schlimmes«, sagte sie. »Eine Kugel hat deine Kopf  haut gestreift.«
    »Hast du gezählt, wie viele ich getroffen habe, Hester?«
    »Nein, ich war zu beschäftigt damit, in Deckung zu gehen. Lade dein Gewehr, solange du kannst, Junge.«
    Lee rollte sich hinter den Felsen ab und betätigte den Ladehebel. Es war heiß, und das Blut, das reichlich von seinem Kopf auf das Schloss getropft war, trocknete schnell und machte den Mechanismus schwerfällig. Er spuckte darauf und es ging etwas leichter.
    Dann schob er sich wieder hinauf, und noch bevor er das Auge am Visier hatte, traf ihn eine Kugel.
    Es fühlte sich an wie eine Explosion in seiner linken Schulter. Einige Sekunden war er wie betäubt, und als er wieder zu sich kam, hing sein linker Arm taub und nutzlos an ihm herunter. So weh es später tun würde, noch spürte er nichts, und das gab ihm die Kraft, sich wieder aufs Schießen zu konzentrieren.
    Er stützte das Gewehr auf den toten, nutzlosen Arm, der noch kurz zuvor so lebendig gewesen war, und zielte mit ruhiger Konzentration, einmal, zweimal, dreimal, und alle Schüsse trafen ihr Ziel.
    »Wie steht es?«, murmelte er.
    »Gute Trefferquote«, flüsterte Hester an seiner Wange. »Weiter so. Da drüben bei dem schwarzen Felsen …«
    Er sah hin, zielte, schoss. Der Mann stürzte.
    »Verdammt, das sind Menschen wie ich«, sagte er.
    »Es ist sinnlos«, sagte Hester, »aber tu’s trotzdem.«
    »Glaubst du ihm? Grumman?«
    »Sicher. Weiter, Lee.«
    Es knallte, wieder fiel ein Mann, und sein Dæmon erlosch wie eine Kerze.
    Dann folgte eine lange Stille. Lee suchte in seiner Hosentasche und fand noch einige Kugeln. Als er wieder lud, spürte er etwas so Einzigartiges, dass sein Herz fast aussetzte: Hester drückte ihr Gesicht an seines, und es war tränenüberströmt.
    »Es ist meine Schuld, Lee«, sagte sie.
    »Warum?«
    »Der Skräling. Ich sagte doch, du solltest seinen Ring nehmen. Ohne ihn wären wir nicht in diese Lage gekommen.«
    »Glaubst du, ich hätte je getan, was du sagst? Ich nahm den Ring, weil die Hexe –«
    ‘ Er sprach nicht zu Ende, weil eine zweite Kugel ihn traf. Diesmal zerschmetterte sie sein linkes Bein, und bevor er noch denken konnte, hatte eine dritte Kugel erneut seinen Kopf gestreift, als ob jemand einen rotglühenden Schürhaken darüber gezogen hätte.
    »Nicht mehr lange, Hester«, murmelte er und versuchte still zu halten.
    »Die Hexe, Lee! Du sagtest eben, die Hexe! Erinnerst du dich?«
    Die arme Hester, sie lag jetzt schwach neben ihm, nicht mehr gespannt und wachsam, wie sie es sein ganzes erwachsenes Leben lang gewesen war. Und ihre schönen goldbraunen Augen waren stumpf geworden.
    »Aber immer noch schön«, sagte Lee. »Ach ja, Hester, die Hexe. Sie gab mir …«
    »Natürlich. Die Blume …«
    »In meiner Brusttasche. Hol sie raus, Hester, ich kann mich nicht rühren.«
    Es kostete Hester viel Mühe, aber schließlich zog sie die kleine, scharlachrote Blume mit ihren starken Zähnen heraus und legte sie neben seine rechte Hand.
    Mit größter Anstrengung schloss er seine Faust darum und sagte: »Serafina Pekkala! Bitte hilf mir …«
    Unten bewegte sich etwas. Er ließ die Blume los, zielte, schoss. Die Bewegung hörte auf.
    Hester atmete nur noch schwach.
    »Hester, du darfst nicht vor mir gehen«, flüsterte Lee.
    »Ich könnte es keine Sekunde ohne dich aushaken, Lee«, flüsterte sie zurück.
    »Glaubst du, die Hexe kommt?«
    »Natürlich kommt sie. Wir hätten sie schon viel früher rufen sollen.«
    »Wir hätten vieles tun sollen.«
    »Vielleicht –«
    Wieder knallte es, und diesmal drang die Kugel tief in ihn ein, auf der Suche nach dem Zentrum seines Lebens. Sie wird es nicht finden, dachte er, mein Zentrum ist Hester. Unter sich sah er etwas Blaues leuchten, und er versuchte mühsam den Lauf darauf zu richten.
    »Das ist er«, hauchte Hester.
    Lee schaffte es
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