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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer
Autoren: Philip Pullman
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Feldt sie sagen, »Asriel zieht gegen die höchste Autorität in den Krieg, und dann … natürlich, natürlich … alles wird sich wiederholen. Und Lyra ist Eva. Aber diesmal wird sie nicht fallen, dafür sorge ich. Es wird keinen Sündenfall geben …«
    Mrs. Coulter straffte sich und schnippte mit den Fingern zu dem Gespenst, das den Dæmon der Hexe verzehrte. Zuckend blieb die kleine Schneeammer auf dem Stein liegen, während das Gespenst auf die Hexe selbst zuglitt, und dann verdoppelten, verdreifachten und vervielfachten sich Lena Feldts Qualen. Sie empfand eine solche Seelenqual, einen solchen Ekel und Überdruss und eine so abgrundtiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, dass sie sterben wollte. Ihre letzte bewusste Empfindung war Abscheu vor dem Leben selbst: Ihre Sinne hatten sie getäuscht, die Welt bestand nicht aus Energie und Freude, sondern aus Fäulnis, Lug und Trug. Das Leben war hassenswert und der Tod nicht besser, und das war von einem Ende des Universums bis zum anderen die erste, letzte und einzige Wahrheit.
    So stand sie da, den Bogen in der Hand, gleichgültig, bei lebendigem Leibe tot.
    Sie nahm in ihrer Gleichgültigkeit auch nicht mehr wahr, was Mrs. Coulter nun tat. Ohne den bewusstlos auf seinem Stuhl zusammengesunkenen grauhaarigen Mann oder seinen im Staub zusammengerollten, stumpf-grünen Dæmon zu beachten, rief sie den Anführer der Soldaten herbei und befahl ihm, sich für einen Nachtmarsch in die Berge zu rüsten.
    Dann ging sie zum Ufer und rief die Gespenster.
    Und auf ihren Befehl kamen sie, glitten sie wie Säulen von Dunst über das Wasser. Mrs. Coulter hob die Arme und machte sie vergessen, dass sie an die Erde gebunden waren, und eins nach dem anderen stiegen sie auf und schwebten wie bösartige Distelwolle durch die Luft, vom Wind in die Nacht hinauf und zu Will und Lyra und den anderen Hexen getragen. All das bemerkte Lena Feldt nicht mehr.
     
     
    Nach Einbruch der Dunkelheit wurde es schnell kalt. Will und Lyra legten sich deshalb, nachdem sie ihr letztes trockenes Brot gegessen hatten, unter einen überhängenden Felsen, um sich warm zu halten, und versuchten zu schlafen. Zumindest Lyra hatte damit keine Schwierigkeiten; sie war, eng an Pantalaimon gekuschelt, in weniger als einer Minute einge  schlafen. Doch Will konnte nicht einschlafen, egal wie lange er es versuchte. Das lag zum Teil an seiner dick geschwollenen Hand, die jetzt bis zum Ellbogen schmerzte, aber auch an dem harten Boden, der Kälte, seiner Erschöpfung und der Sehnsucht nach seiner Mutter.
    Natürlich sorgte er sich um sie und wusste, dass sie sicherer gewesen wäre, wenn er sich um sie hätte kümmern können; aber er sehnte sich auch danach, dass sie sich um ihn kümmerte, wie sie es getan hatte, als er noch sehr klein war. Er wollte, dass sie seine Hand verband, ihn warm zudeckte, ihm etwas vorsang, alle Sorgen von ihm nahm und ihn mit jener Wärme und mütterlichen Liebe umgab, die er so sehr brauchte und doch nie haben würde. Mit einem Teil war er immer noch ein kleiner Junge. So weinte er, machte dabei aber kein Geräusch, weil er Lyra nicht aufwecken wollte.
    Doch einschlafen konnte er nicht, er war jetzt sogar wacher denn je. Schließlich rollte er sich auf die Seite und stand zitternd vor Kälte leise auf. Das Messer an der Hüfte, begann er bergauf zu steigen, um zur Ruhe zu finden.
    Hinter ihm hob der Dæmon der wachenden Hexe, ein Rotkehlchen, den Kopf. Die Hexe drehte sich um, und als sie Will die Felsen hinaufsteigen sah, griff sie nach ihrem Kiefernzweig und schwang sich lautlos in die Luft. Sie wollte den Jungen nicht stören, nur aufpassen, dass ihm nichts zustieß.
    Will bemerkte sie nicht. Er hatte ein solches Bedürfnis, zu gehen und immer nur zu gehen, dass er die Schmerzen in seiner Hand kaum noch spürte. Ihm war, als müsse er die ganze Nacht, den ganzen Tag, ja für alle Zeiten gehen, so als ob nichts anderes das Fieber in seiner Brust lindern könne. Und wie in geheimem Einverständnis mit ihm kam heftiger Wind auf. Zwar gab es in dieser Ödnis keine Blätter, durch die er hätte rauschen können, doch zerrte er an Wills Kleidern und blies ihm die Haare aus dem Gesicht, ein äußeres Abbild seines inneren Aufruhrs.
    Immer höher stieg er, ohne ein einziges Mal zu überlegen, wie er wieder zu Lyra zurückfinden würde, bis er auf eine kleine Hochebene kam, auf dem Gipfel der Welt, wie ihm schien, höher als alle Berge, die er um sich bis zum Horizont aufragen sah. Der
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