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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer
Autoren: Philip Pullman
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Streichholz an, um eine kleine Lampe aus Blech anzumachen. In ihrem Schein sahen der Mann und der Junge einander durch windgepeitschte Regenschleier an.
    Will sah zwei leuchtend blaue Augen in einem schmerz  verzerrten, hageren Gesicht mit einem widerspenstigen Kinn, einem mehrere Tage alten Bart und grauen Haaren und einen mageren Körper unter einem schweren, mit Federn gesäumten Mantel.
    Der Schamane sah einen mit einem zerrissenen Leinenhemd bekleideten, zitternden und von Erschöpfung gezeichneten Jungen, der noch kleiner war, als er vermutet hatte, und ihn wild und misstrauisch ansah, aber auch mit einer unbezwingbaren Neugier, mit großen Augen unter geraden, schwarzen Brauen, so ähnlich denen seiner Mutter …
    Und beide wehte eine Ahnung an.
    Doch im selben Moment, in dem das Licht der Laterne über John Parrys Gesicht flackerte, flog etwas aus dem wolkenverhangenen Himmel, und er fiel tot zurück, bevor er ein Wort sagen konnte, einen Pfeil in seinem versagenden Herzen. Im nächsten Augenblick war der Fischadler verschwunden.
    Will saß fassungslos da.
    Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Seine rechte Hand zuckte hoch und hatte im nächsten Moment ein Rotkehlchen gepackt, einen Dæmon, der sich in Panik wand.
    »Nein!«, schrie die Hexe Juta Kamainen. »Nein!« Sie fiel ihrem Dæmon hinterher, griff sich an ihre Brust, schlug schwer auf den felsigen Boden und versuchte ungeschickt, wieder aufzustehen.
    Doch Will war neben ihr, bevor sie aufstehen konnte, und hielt ihr das Magische Messer an die Kehle.
    »Warum hast du das getan?«, rief er. »Warum hast du ihn getötet?«
    »Weil ich ihn liebte und er mich zurückwies! Ich bin eine Hexe! Ich vergebe nie!«
    Und weil sie eine Hexe war, hätte sie normalerweise auch nicht vor einem Jungen Angst gehabt. Doch vor Will hatte sie Angst. Von diesem Jungen mit der verwundeten Hand ging eine solche innere Kraft und Bedrohung aus, wie sie es bei einem Menschen noch nie erlebt hatte. Sie begann zu zittern. Sie wich zurück, und er folgte ihr und packte sie mit der linken Hand an den Haaren. Er hatte keine Schmerzen mehr, er war lediglich erfüllt von einer unendlichen, ausweglosen Verzweiflung.
    »Du weißt nicht, wer er war«, schrie er. »Er war mein Vater!«
    »Nein«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf. »Nein! Das ist nicht wahr. Unmöglich!«
    »Glaubst du, dass Dinge möglich sein müssen? Sie müssen wahr sein! Er war mein Vater, und wir wussten es beide erst in dem Augenblick, in dem du ihn getötet hast! Mein Leben lang habe ich gewartet, und ich bin den ganzen Weg hierhergekommen und finde ihn endlich, und dann tötest du ihn …«
    Er schüttelte sie wie einen Lumpen und warf sie auf den Boden zurück, so dass sie fast ohnmächtig wurde. Ihr Erstaunen war noch größer als ihre Angst vor ihm, und benommen richtete sie sich wieder auf und fasste ihn flehentlich am Hemd. Er stieß ihre Hand zurück.
    »Was hat er denn getan, dass du ihn töten musstest?«, rief er unter Tränen. »Sag mir das, wenn du kannst!«
    Sie sah den Toten an, dann wieder Will, und schüttelte traurig den Kopf.
    »Nein, ich kann es dir nicht erklären«, sagte sie, »dazu bist du zu jung, du würdest es nicht verstehen. Ich habe ihn ge  liebt, das ist alles. Das ist genug.«
    Und ehe Will sie aufhalten konnte, sank sie seitwärts zu Bo  den, die Hand noch am Heft des Messers, das sie aus ihrem Gürtel gezogen und sich zwischen die Rippen gestoßen hatte.
    Will fühlte weder Entsetzen noch sonst etwas, nur Verwirrung und namenlose Verzweiflung.
    Langsam stand er auf und sah auf die tote Hexe hinunter, auf ihre dichten, schwarzen Haare, ihre geröteten Wangen, ihre glatten, regennassen Arme und Beine, ihre wie zum KUSS geöffneten Lippen.
    »Ich verstehe das nicht«, sagte er laut. »Es ist alles so merk  würdig.«
    Er drehte sich zu dem Toten um, seinem Vater.
    Tausend Dinge drängten sich ihm in der Kehle, und nur der herabstürzende Regen konnte das Brennen in seinen Au  gen lindern. Die Flamme der kleinen Laterne flackerte und rauchte im Zug, der durch das undichte Fenster kam, und in ihrem Licht kniete Will hin und legte die Hand auf den To  ten, berührte Gesicht, Schultern und Brust, schloss ihm die Augen, strich ihm die nassen, grauen Haare aus der Stirn, presste seine Hände an die rauen Wangen, schloss ihm den Mund und drückte ihm die Hände.
    »Vater«, sagte er, »Dad, Daddy … Vater … ich verstehe nicht, warum sie das getan hat, ich verstehe es
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