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Das Maedchen von Atlantis

Das Maedchen von Atlantis

Titel: Das Maedchen von Atlantis
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ansah. Singh
legte ihm sanft die Hand auf die Schulter.
»Es hätte keinen Sinn«, sagte er. »Wahrscheinlich ist
er bereits fort. Und selbst wenn nicht - Ihr wißt, daß
er so handeln muß. Ihr könntet ihn nicht aufhalten.
Ihr würdet es nur für uns alle schwerer machen.«
Mike schlug seine Hand beiseite und funkelte ihn an.
Gleich darauf tat ihm seine eigene Unbeherrschtheit
schon wieder leid - aber Singh schien sie ihm nicht
übelzunehmen. Er spürte wohl, daß es nur seine Art
war, mit dem Entsetzen fertig zu werden.
    Und nach einer Weile ließ sich Mike auch wieder
zurücksinken und schloß die Augen. Diesmal versuchte er nicht, die Tränen zurückzuhalten, die unter seinen Lidern hervorquollen.
    Sie hatten sich erkundigt, wann die nächste Fähre ablegen würde, und dabei erfahren, daß sich Großbritannien tatsächlich im Kriegszustand mit Deutschland
befand. So schrecklich die Nachricht auch war, brachte sie ihnen doch einen Vorteil. Vor der Kriegserklärung hatte nur alle paar Tage eine Fähre zwischen
Alderney und dem britischen Festland verkehrt. Jetzt
aber fuhr täglich mehrmals eine Fähre: die nächste
bereits eine Stunde nach Sonnenaufgang.
Um nicht aufzufallen, gingen sie nicht in einer Gruppe, sondern getrennt an Bord - Singh, der sich des
neunjährigen Chris' angenommen hatte, als erster, danach kam Ben (niemand hatte sich seinem Vorschlag, allein zu gehen, besonders nachdrücklich widersetzt),
und am Schluß und mit einigen Minuten Abstand
folgten Juan, André und Mike selbst.
Es war ein sonderbares Gefühl, nach so langer Zeit
wieder unter Menschen zu
sein. Immerhin waren
mehr als sieben Monate vergangen, seit sie England
verlassen hatten, und seither waren sie eigentlich fast
immer allein gewesen. Wenn überhaupt, so hatte sich
Mike auf diesen Aspekt ihrer Rückkehr am meisten
gefreut: endlich wieder unter Menschen zu sein und
einmal andere Gesichter zu sehen als die Singhs,
Trautmans oder der vier anderen. Aber nun fühlte
Mike sich unter all diesen Menschen nicht wohl. Ganz
im Gegenteil: Sie machten ihm angst. Auf dem Deck
der schwankenden Fähre herrschte enormes Gedränge. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und der Lärm war unbeschreiblich.
    Erst nach einer Weile wurde ihm klar, weshalb.
Es waren nicht die Menschen, die ihm ein solches Unbehagen einflößten. Es war ihre Angst, die er spürte.
Wohin er auch sah, blickte er in bedrückte Gesichter,
sah er in Augen, die sorgenvoll dreinblickten, und es
schien nur ein Gesprächsthema zu geben: den Krieg.
Je mehr Mike darüber nachdachte, desto absurder erschien ihm die Vorstellung, daß sich plötzlich ganze
Nationen gegenüberstehen sollten, bis an die Zähne
bewaffnet und wild entschlossen, den anderen niederzumachen, ganz gleich, was es kostete. Es gelang ihm
einfach nicht, den Gedanken als Wirklichkeit zu akzeptieren. Krieg, das war etwas, worüber man in Geschichtsbüchern las oder in Romanen, wo er einen
spannenden Hintergrund bilden mochte. Es war Vergangenheit. Die Zeiten, in denen man Meinungsverschiedenheiten dadurch löste, indem man den anderen kurzerhand tötete, sollten eigentlich längst vorbei
sein. Ihm selbst kam die Vorstellung noch immer
lächerlich vor. Aber die Angst in den Gesichtern der
Menschen hier war echt.
Die Fähre legte pünktlich ab und nahm Kurs auf die
Britischen Inseln. Juan, André und Mike hatten sich
einen Platz auf dem Achterdeck erobert, an dem sie
wenigstens stehen konnten, ohne sich gegenseitig auf
die Zehen zu treten. Falls diese Fähre überhaupt jemals so etwas wie Sitzplätze gehabt hatte, so waren
sie entfernt worden, um Platz für mehr Passagiere zu
schaffen. Zumindest würde die Überfahrt nicht lange
dauern - der Mann, der ihnen die Karten verkauft
hatte, hatte gesagt, daß sie kaum zwei Stunden brauchen würden, um England zu erreichen.
Mikes Blick irrte immer wieder auf das Meer hinaus,
und er ertappte sich bei der widersinnigen Hoffnung,
den Turm der NAUTILUS auftauchen zu sehen.
    Natürlich würde das nicht geschehen. Sie hatten vor
einer halben Stunde abgelegt, und das bedeutete, daß
Trautman jetzt bereits seit anderthalb Stunden unterwegs war, um die NAUTILUS in ihren letzten Hafen
zu steuern. Der Gedanke erfüllte ihn mit tiefer Traurigkeit. Er spürte erst jetzt wirklich, wie sehr ihm dieser alte Mann ans Herz gewachsen war.
Aber war es nicht oft im Leben so - daß man erst begriff, wie viel einem ein Mensch bedeutete, wenn er
nicht mehr da war?
»Nimm es nicht so
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