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Das Maedchen mit den Schmetterlingen

Titel: Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Autoren: Carol Coffey
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aufrecht und in Gedanken versunken neben der Toten. Seine Mutter hatte ihn immer vor seinem Vater beschützt, hatte sie alle beschützt. Jetzt war sie nicht mehr da, und er fragte sich, ob sein Vater den Hof durch die Trinkerei wohl zugrunde richten würde, den Hof, der nach den Worten seiner Mutter von Rechts wegen ihm gehörte und der seine einzige Chance auf eine Zukunft war.
    Tess ließ den Blick über die kleine, schwarz gekleidete Trauergemeinde schweifen. Manche Leute hatte sie noch nie gesehen. Sie hätte am liebsten alle nach ihrem Namen gefragt, weil sie immer gerne wusste, wie die Leute hießen. Sie lauschte, als der Priester Gebete aus einem wunderschönen schwarzen
Buch mit goldener Schrift anstimmte. Wie aber sollte ihre Mutter wieder aus dieser großen Kiste klettern, wenn es ihr besser ging? Ihr war klar, dass sie auch diese Frage für sich behalten musste, aber sie war zehn Jahre alt und ihr Kopf voll mit solchen Fragen. Wann würde ihre Mutter wohl wiederkommen? Schließlich war sie die Einzige, die ihr die Haare genau so frisierte, wie sie es haben wollte. Niemand kam auf den Gedanken, ihr zu erklären, dass ihre Mutter nie wieder zurückkommen würde.
    Nach der Beerdigung verliefen die Tage für die Kinder der Familie Byrne eintönig und vorhersehbar. Seán versorgte den Hof, während sein Vater sich von seinem letzten Kater erholte. Kate und Tess kümmerten sich um den Haushalt und das Baby, obwohl Tess nur ungern auf Ben aufpasste und jedes Mal, wenn er anfing zu schreien, die Finger in die Ohren steckte. Sie wusste, dass der Kleine, genau wie sie, nicht gerne angefasst wurde, und fragte sich, ob er später die gleichen »Probleme« haben würde wie sie. Ihrer Familie würde das nicht gefallen, so viel war klar. Sie schien für alle eine Last zu sein, was sie nicht begreifen konnte. Sie wusste, dass sie anders war, aber wieso war sie ein Problem? Sie war doch genau so fleißig wie Kate, oder etwa nicht?
    Außer Babygeschrei gab es noch mehr, was Tess nicht mochte. Zum Beispiel den Geruch von Whiskey oder wie ihr Vater sich aufführte, wenn er getrunken hatte. Tess hatte es gern, wenn die Dinge berechenbar waren, aber jetzt versteckte sie sich zum Ärger ihrer Schwester immer öfter in der Scheune und summte vor sich hin. Tess wusste, dass Kate sie verlassen wollte, dass sie Noel heiraten und eine eigene Familie gründen wollte, aber war das hier nicht ihre Familie? Tess wollte sich nicht um das Baby kümmern und wollte auch nicht mit ihrem betrunkenen Vater allein bleiben. Seán konnte ihr nicht helfen.
Er musste ihren Vater bei Laune halten, schließlich sollte er ja den Hof bekommen, wenn Daddy tot war. Tess hatte all diese Gespräche mitbekommen - Kate muss heiraten, Seán muss den Hof bekommen, und das Baby muss auf den Arm genommen werden -, aber irgendwie ergab das alles keinen Sinn. Sie strengte sich an, um diese vielen wichtigen Dinge im Kopf zu behalten und sich normal zu benehmen, aber was sollte daran denn so wichtig sein? Sie wollte eigentlich nur, dass alles so blieb, wie es war. Sie war zwar erst zehn Jahre alt, aber trotzdem war Tess sich darüber im Klaren, dass sie nicht alles verstehen konnte, was sie verstehen sollte. Die seltenen Besucher schüttelten den Kopf und sagten zu ihrer Schwester: »Gott im Himmel, Kate, du hast wirklich alle Hände voll zu tun.« Aber Tess wusste, dass einzig und allein Daddy ein Problem darstellte. Er war schuld daran, dass Mammy mit einem neuen Baby krank geworden war und Seán so hart arbeiten musste, weil er nämlich abends in den Pub ging, und wenn Mammy nicht krank geworden wäre, hätte Kate heiraten können, und es gäbe auch kein Baby, dessen Geschrei Tess zwang, sich die Ohren zuzuhalten, was alles noch verschlimmerte. Wenn Tess das durchschauen konnte, obwohl sie angeblich »Probleme« hatte, warum konnten die anderen das nicht durchschauen?
    Das war eine vernünftige Frage, fand Tess und ging in die Küche. Noel war gerade zu Besuch, zusammen mit seiner Mutter und seiner Tante, einer Schneiderin aus Dublin, die Kates Hochzeitskleid nähen sollte.
    Als Tess die Küche betrat, wurde Kate nervös, wie immer, wenn Besuch da war. Sie wusste nie, was ihre eigenartige Schwester im nächsten Moment von sich geben würde. Die Kleine gab sich die größte Mühe, und nach allem, was sie von der Sonderschule zu hören bekam, hätte sie sehr viel schwieriger sein können. Manchmal empfand Kate Mitleid für ihre
Schwester, die vermutlich irgendwann
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