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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Autoren: Random House
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wie eine ganze Stadt zu sein schien.
    Der Tross, der inzwischen auf ihrer Höhe angekommen war, steuerte auf die alte Holzbrücke zu, die über den Fluss, weiter zur Straße nach Bar-le-Duc führte. Schon seit Wochen bereitete man sich dort auf den Empfang des hohen Besuchs vor. Die Königinmutter und Charles würden dem Herzog de Lorraine, der zum mächtigen Clan der Guise gehörte, die Ehre erweisen und an der Taufe seines neugeborenen Sohns teilnehmen.
    Madeleine bemerkte, dass sich immer mehr Menschen am Wegesrand versammelt hatten – die Kunde vom königlichen Reisezug hatte sich so schnell wie ein Lauffeuer verbreitet. Der Wind strich ihr über die Wangen, und ihre Haare wehten ihr erneut ins Gesicht. Ihr Blick glitt zur anderen Uferseite, wo die Flügel einer Windmühle in den Himmel ragten. Ein Fuhrwagen hatte vor dem Gebäude gehalten, und mehrere Männer waren damit beschäftigt, ein Mühlrad abzuladen.
    Die Leute um sie herum jubelten. Die Sonne strahlte, und einige Adlige ließen von ihren Dienern sogar Münzen unters Volk werfen, doch Madeleine ergriff plötzlich ein merkwürdiges Gefühl, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Etwas entfernt konnte sie jetzt eine Sänfte sehen, die von mehreren Leibgarden umringt wurde. Ob der König oder Catherine de Medici in dem Gefährt saßen? Der anschwellende Jubel um die Sänfte ließ es vermuten. Neugierig versuchte sie Genaueres zu erspähen, doch die Menschen versperrten ihr die Sicht.
    In diesem Augenblick hörte sie den Schrei. Er drang gedämpft und isoliert wie aus einer anderen Welt durch den Lärm zu ihr, und sie fuhr unwillkürlich zusammen.
    »Hast du das gehört?«
    »Was?«, erwiderte Agnès, die völlig von dem Geschehen vor ihnen gefangen genommen wurde.
    »Den Schrei!«
    »Aber hier schreien doch alle … Oh, schau, da vorn, das muss die Medici sein!«
    Madeleine blickte sie verunsichert an. Sie war blass geworden. Agnès hatte es nicht gehört. Und die anderen Menschen scheinbar auch nicht. Hatte sie es sich denn nur eingebildet? Sie strich sich noch einmal die wehenden Haare aus dem Gesicht und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das bunte Treiben des Zugs. Da vernahm sie den Schrei erneut. Es war ein unmenschlicher Laut des Schmerzes, der sie bis in ihr Innerstes erschauern ließ. Unmerklich wandte sie den Kopf zur anderen Uferseite, wo sich die Mühle befand. Man hätte den Schrei unmöglich bis hierher hören können, doch sie wusste, dass er von dort gekommen war. Vor ihren Augen stieg mit einem Mal ein Bild auf. Ein Fuhrwagen, der umgekippt war, und ein verletztes Bein – es war zerquetscht worden, von einem schweren Gegenstand. Madeleine spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat, und bekam Angst. Sie bemühte sich, das Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben. Erleichtert stellte sie fest, dass es verschwand. Ihre Sinne spielten ihr bestimmt nur einen Streich, versuchte sie sich zu beruhigen – aber sie merkte, dass etwas nicht stimmte. Ihre Augen und Ohren nahmen mit geschärfter Aufmerksamkeit jede Einzelheit des Geschehens um sie herum wahr. Alles schien mit einem Mal klarer und intensiver als zuvor. Was war nur los mit ihr? Sie zwang sich, ihren Blick auf die Garden zu konzentrieren, die am Ufer entlang ritten, doch es gelang ihr nicht – wieder stiegen Fragmente von Bildern vor ihr auf. Menschen schwammen im Fluss und versuchten verzweifelt, sich an Land zu retten. Madeleines Herzschlag beschleunigte sich. Panik ergriff sie. Warum sah sie nur diese Dinge? Ihre Finger verkrampften sich in den Falten ihres Rockes, und sie bemühte sich von Neuem mit aller Macht, die Bilder zu verdrängen, doch diesmal war das, was sie sah, stärker. Sie konnte nichts dagegen tun. Wieder erblickte sie den Fluss. Menschen und Pferde trieben in der eiskalten Strömung – sie kämpften um ihr Leben und versuchten, in ihrer schweren Kleidung ans Ufer zu gelangen. Und dann sah sie die Brücke! Sie war eingestürzt und hatte sie alle mit sich gerissen … Der Kopf eines Jungen tauchte über Wasser auf. Er schnappte nach Luft, und einen Augenblick lang konnte sie seine angsterfüllten Augen so deutlich erken nen, als würde er direkt vor ihr stehen – dann wurde er in die Tiefe gezogen. Sein Fuß hatte sich im Steigbügel seines Pferds verfangen …
    Madeleine erschauderte. Sie hatte plötzlich selbst das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
    »Madeleine?«
    Der Klang ihres Namens drang von weit her zu ihr.
    »Was ist mit dir?«,
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