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Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Autoren: Random House
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großes, imposantes Zelt zusteuer ten, das man in Windeseile aufgebaut haben musste. In den edlen Tuchstoff war ein Wappen gewebt, und eine goldbestickte Fahne flatterte auf dem Dach.
    Madeleine bemühte sich, das aufkeimende Angstgefühl zu bekämpfen, das sich mit jedem Schritt verstärkte, dem sie sich dem Zelt näherten. Mehrere Leibgarden standen vor dem Eingang. Als sie den Offizier gefragt hatte, weshalb man sie mitnahm, hatte er ihr nicht einmal eine Antwort gegeben. Was wollte man von ihr? Sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen. Dennoch fühlte sie sich auf seltsame Weise verantwortlich für das, was ge schehen war.
    Die Leibgarden traten zur Seite, und der Offizier drehte sich zu Madeleine. »Du wirst dich tief verbeugen und erst wieder hochkommen, wenn man es dir erlaubt«, befahl er streng.
    Sie nickte stumm. Er schlug den Stoff zum Eingang zur Seite, und Madeleine folgte ihm.
    »Euer Majestät. Hier ist das Mädchen!«
    Majestät? Madeleine erstarrte und blieb eingeschüchtert mit einer tiefen Verbeugung hinter ihm stehen.
    Eine ganz in Schwarz gekleidete Frau, die mit mehreren Höflingen zusammenstand, drehte sich zu ihnen. Ihr Kleid war aus einem steifen Stoff gefertigt, der ebenso wie ihre Haube an den Rändern mit Perlen bestickt war und die Strenge ihrer Erscheinung noch betonte. Sie stand in kerzengerader Haltung in der Mitte des dunkelroten Zeltes, ohne dass sich irgendetwas an ihr zu bewegen schien, und die Macht und Autorität, die sie dabei ausstrahlte, ließen Madeleine mit einem Schlag begreifen, dass sie tatsächlich vor der Königinmutter, Catherine de Medici, persönlich stand.
    »Du darfst dich erheben«, sagte sie mit einer Stimme, deren herber Klang durch ihren italienischen Akzent verstärkt wurde.
    Madeleines Herz pochte bis zum Hals, und sie erhob sich gehor sam. Aus den Augenwinkeln nahm sie die Höflinge und einen Jun gen wahr, die etwas hinter der Königinmutter standen. Sie bemerk te, dass im Hintergrund ein Diener damit beschäftigt war, Obst, Konfekt und eine Weinkaraffe auf einen Tisch zu stellen. Mehrere mit Gold verzierte Schemel und Armlehnstühle luden in dem Zelt zum Sitzen ein, und sogar ein Teppich bedeckte den Boden. Made leines Augen hefteten sich unwillkürlich auf den grob gewebten, bereits fadenscheinigen Stoff ihres eigenen Kleides, das dank der Erlebnisse der letzten Stunden unschöne Flecken aufwies.
    »Sieh mich an, mein Kind«, sagte die Königinmutter.
    Befangen hob sie den Kopf. Sie blickte in das rundliche Gesicht einer gereiften Frau, das mit der markanten Nase und der fülligen Unterlippe eher hässlich als schön zu nennen war. Doch in den etwas zu großen hervorstehenden Augen spiegelte sich eine wache, scharfe Intelligenz, und Madeleine hatte das ungute Gefühl, diese Frau würde bis auf den Grund ihrer Seele schauen. Der durchdringende Blick, mit dem die Königinmutter sie maß, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Voller Furcht musste sie an die vielen Geschichten denken, die man sich über die Medici erzählte, dass sie sich mit Zauberern und Giftmischern abgäbe, die ihre schmutzigen Geschäfte für sie erledigten, und sie selbst die Alchemie und Magie praktiziere. Die italienische Hexe, so nannte man sie insgeheim im Volk.
    »Wie man mir sagte, hast du großes Unglück verhindert! Du hast die Menschen vor dem Einsturz der Brücke gewarnt … Du hast es vorhergesehen! Stimmt das?«, fragte die Medici. Ein lauerndes Interesse lag in ihren Augen, und Madeleine merkte, dass sie plötzlich alle im Zelt neugierig anstarrten. Auch der Junge – erst jetzt erkannte sie ihn wieder. Es war der Knabe, den sie in ihrer Vorahnung hatte ertrinken sehen und der sie später vor dem Offizier in Schutz genommen hatte.
    Madeleine versuchte zu begreifen, was man von ihr wollte. »Ich … ich habe nichts vorhergesehen«, stammelte sie. Sie konnte unmöglich sagen, was wirklich vorgefallen war. In diesem Moment zwickte sie etwas in den Oberschenkel. Erschrocken fuhr sie zusammen.
    »Oho, sie hat Angst!«, kicherte eine Stimme neben ihr, die von unterhalb ihrer Hüfte zu hören war. Eine bunt gekleidete Zwergin schaute zu ihr hoch. Sie ließ ein kleines goldenes Glöckchen bimmeln, das an ihrem gebauschten Ärmel befestigt war. »Du fürchtest dich, was?« Sie ließ ein meckerndes Lachen hören, als würde es sich bei dieser Feststellung um eine besonders amüsante Bemerkung handeln.
    Erstarrt schaute Madeleine zu der kleinen Gestalt
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