Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Autoren: Random House
Vom Netzwerk:
hinunter.
    »Fôlle!«, ertönte es schneidend. Die Königinmutter hatte kaum wahrnehmbar die Hand gehoben, was die Zwergin augenblicklich dazu brachte, von Madeleine abzulassen. Sie zuckte die Achseln und trollte sich mit watschelnden Schritten zu einem der Schemel, um darauf wie auf einem Thron Platz zu nehmen.
    Die Medici wandte sich wieder Madeleine zu. »Weißt du, wer ich bin?«, fragte sie hoheitsvoll.
    »Ja, Euer Majestät!«
    »Dann weißt du auch, dass du mir die Wahrheit sagen musst, nicht wahr?«
    Madeleine nickte und spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden – sie konnte einfach nicht die Wahrheit sagen. Wie auch? Man würde sie für verrückt erklären oder, schlimmer noch, glauben, dass sie mit dem Teufel im Bund stand. Nur zu gut erinnerte sie sich, dass man erst im letzten Jahr in einem der Nachbardörfer eine Frau der Hexerei angeklagt hatte, weil sie ein schreckliches Unwetter prophezeit hatte, das dann auch tatsächlich eingetroffen war.
    »Dann sage mir, was du vorhergesehen hast!«
    »Nichts … wirklich!«, stieß sie verzweifelt hervor.
    Die Königinmutter kam einen Schritt auf sie zu und legte ihr die Hand auf ihre Schulter. »Du musst keine Angst haben, mein Kind. Es ist eine besondere Gabe, so etwas zu können. Die meisten Menschen fürchten sich davor, doch du musst wissen, an meinem Hof gibt es viele Astrologen und Wahrsager.«
    Madeleine blickte sie entsetzt an, als ihr klar wurde, was sie meinte. Sie verglich sie mit diesen Zauberern und Hexern! »Aber ich habe wirklich nichts gesehen«, beteuerte sie.
    Die Hand auf ihrer Schulter zog sich zurück. »Und warum hast du dich dann dem Offizier in den Weg gestellt und ihn gewarnt, dass die Brücke einstürzen würde, wie mein Neffe mir berichtet hat?«, fragte die Medici. Ihre Stimme war deutlich kühler geworden, während sie sich dabei halb zu dem Jungen gewandt hatte.
    »Ich habe nur den Fuhrwagen mit dem Mühlrad gesehen und wie der Wagen umgekippt ist …«, antwortete Madeleine. Das war immerhin nicht vollständig gelogen.
    »Willst du damit sagen, dass du erkennen konntest, dass das Mühlrad den Pfeiler treffen würde?«, mischte sich einer der Höflinge – ein schwarzhaariger Mann mit bläulichen Schatten unter den Augen – ins Gespräch. Es war offensichtlich, dass er ihr kein Wort glaubte.
    »Das Rad ist genau auf die Brücke zugerollt …« Madeleine senkte den Blick.
    »Du lügst!«, sagte der Mann kalt.
    »Nein, Monsieur, sie hat recht. Man konnte sehen, wie das Mühlrad den Abhang hinunterkam«, ließ sich unvermittelt die helle Stimme des Jungen vernehmen.
    Die Medici schaute ihn überrascht an. Ihre Augen ruhten durchdringend auf seinem Gesicht, und man konnte die Spannung zwischen den beiden fühlen. Doch der Junge hielt ihrem Blick stand. Schließlich wandte die Königinmutter sich ab. »Nun, dann bist du scheinbar weniger außergewöhnlich, als ich gedacht habe«, sagte sie zu Madeleine. Ihr Gesicht hatte einen gelangweilten Zug angenommen. »Gebt ihr eine Münze – immerhin hat sie die Menschen rechtzeitig gewarnt«, sagte sie darauf und wandte sich, ohne sie weiter zu beachten, ab.
    Madeleine verspürte einen schalen Geschmack im Mund, als sie das Zelt verlassen hatte. Trotz ihrer Erleichterung traf sie die Verachtung, mit der die Königinmutter sie verabschiedet hatte. Dann bist du scheinbar weniger außergewöhnlich, als ich gedacht habe! Nein, sie wollte nicht außergewöhnlich sein, sondern einfach nur wie all die anderen auch, dachte sie trotzig. Sie dachte wieder an diesen Höfling mit den bläulichen Schatten unter den Augen, wie er ihr die Goldmünze in die Hand gedrückt und sie so unangenehm nach ihrem Namen gefragt hatte. Höchst erstaunt hatte er sie angesehen. » Kolb? Dann kommt deine Familie nicht von hier?«
    »Nein, aus Deutschland«, hatte sie erwidert und sich dabei gefühlt, als hätte er ein anstößiges Mal an ihr entdeckt. Sie kannte diesen Blick nur zu gut, mit dem die Menschen sie musterten, wenn sie erfuhren, dass sie nicht aus der Gegend stammte. Die Leute reagierten überrascht und distanziert darauf. Madeleine unterdrückte ein Seufzen. Wie sehr wünschte sie sich manchmal, einfach einen französischen Familiennamen zu haben.
    Der Gedanke an ihren Namen rief ihr mit einem Mal ihre Mut ter ins Gedächtnis. Sie beschleunigte ihren Schritt. Madeleine hatte sie vollkommen vergessen. Vermutlich war sie schon halb verrückt vor Sorge um sie. Sie musste, so schnell es ging, ihren Korb
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher