Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht

Titel: Das Mädchen mit dem zweiten Gesicht
Autoren: Random House
Vom Netzwerk:
die Ruhe vor einem schrecklichen Sturm. Sie lief und drückte sich eng an den Häuserwänden entlang, denn an den Straßenecken sammelten sich überall Garden und Soldaten. Von irgendwoher hörte sie einen Schrei und Hilferufe. Pferde galoppierten an ihr vorbei.
    Als sie die Rue de Béthisy erreichte, sah sie, dass sie zu spät kam. Reiter und bewaffnete Männer mit Degen und Streitäxten, die die weiße Armbinde trugen, standen vor dem Palais und brachen gerade durch die Tür.
    Nicolas! Im Schutz der Häuser näherte sie sich.
    Grausame Schreie, Lärm und Kampfgeräusche drangen zu ihr. Nein, bitte nicht! Wie versteinert blieb sie in der Dunkelheit zwischen den Häusern stehen. Sie sah im Schein der Fackeln, die den Hof beleuchteten, eine brüllende Gestalt an dem geöffneten Schlafzimmerfenster von Coligny auftauchen.
    »Er ist tot! Tot! Tot!«, schrie der Mann wie im Rausch. Begeistertes Gejohle erscholl als Antwort. Etwas Großes, Schweres wurde aus dem Fenster gezerrt und hinunter in den Hof gestoßen. Es war Colignys Leichnam.
    Madeleine lehnte sich zitternd gegen die Häuserwand. Sie kam zu spät!
    Die Männer stürzten sich mit ihren Waffen auf den Leichnam, schlugen auf ihn ein und massakrierten ihn mit ihren Dolchen und Degen. Gelähmt vor Entsetzen sah Madeleine, dass sich auch der Herzog d’Aumale und Henri de Guise unter den Wütenden befanden. Andere Leichen wurden in den Hof gezerrt. Sie hatten sie alle getötet! Man zerrte ihnen die Kleidung vom Leib.
    Nicolas …! Tränen strömten über ihre Wangen, und sie hatte das Gefühl, eine eiserne Faust würde sich um ihr Herz legen.
    »Von der Ketzerbrut entkommt uns keiner mehr. Die Brücken und Tore sind geschlossen. Heute Nacht werden wir Gottes Schwert gegen sie führen!«, schrie eine Stimme.
    Sie waren wahnsinnig. Sie musste hier weg, dachte Madeleine. Doch sie war nicht fähig, sich zu bewegen. Sie hatten Nicolas umgebracht!
    Ein Mann stürmte aus dem Hof – es war der Herzog d’Aumale. Er hielt den Kopf des Admirals wie eine Trophäe in den Händen. Jubel kam auf. Die anderen schleiften den nackten, enthaupteten Leichnam hinterher. Madeleine glaubte, sich übergeben zu müssen. Ihr Entsetzen wurde endlich von Todesangst abgelöst. Sie trat aus der Nische hervor, um wegzurennen. Doch eine Männergestalt hatte sie entdeckt und kam geradewegs auf sie zu. Es war Henri de Guise. »Die Hexe!«, stieß er hervor.
    Madeleine rannte. Die Angst verlieh ihr übermenschliche Kräf te. Sie bog in eine enge, dunkle Gasse ein und weiter eine Straße entlang. Henri de Guise war dicht hinter ihr.
    Überall liefen und kämpften Männer mit den weißen Armbinden. Türen zerbarsten, Menschen wurden aus den Häusern gezerrt – auch Frauen und Kinder. Man hörte verzweifelte Schreie und Hilferufe und den Lärm von Waffen. Leichen lagen auf der Straße. Immer wieder drehte Madeleine sich um, schlug Haken, doch Henri de Guise folgte ihr. Sie sprang zwei Kämpfenden aus dem Weg und bog hinter ihnen in eine schmale Gasse. Es war ihr gelungen, etwas Abstand zu bekommen. Sie lief nach rechts erneut in eine schmale Straße. Ihre Lungen brannten. Außer Atem verlangsamte sie den Schritt, als sie hinter sich wieder Schritte hörte. Verzweifelt sah sie sich um. Da öffnete sich plötzlich eine Tür in einem der Häuser. Eine Hand zog sie herein und legte ihr den Finger auf den Mund. Es war eine alte Frau, die sie wortlos in einen Flur mitnahm und weiter zu einer Hintertür, die sie öffnete. Als Madeleine die Kette mit ihrem Kreuz sah, begriff sie, dass sie eine Katholikin war, die sie für eine Protestantin hielt. »Danke!«, stieß sie leise hervor.
    »Gott sei mit dir, mein Kind!«
    Madeleine lief weiter am Quai der Seine entlang. Im Wasser trieben Tote. Überall lagen Leichen – nicht nur Männer und Frauen, sondern sogar Kinder. Aufgespießt, erdolcht, erschlagen oder von Schüssen zerfetzt. Niemals hätte sie geglaubt, dass Men schen zu solchen Taten fähig wären.
    Verzweifelte Schreie und Rufe erfüllten die Nacht, und sie sah den Hass in den Gesichtern der Katholiken, die man im Licht des Mondes nur an dem weißen Streifen an ihrem Arm und den weißen Kreuzen auf ihren Hüten erkannte. Heute Nacht führen wir Gottes Schwert – und es gab kein Halten mehr.
    Madeleine hatte Angst … fürchterliche Angst. Ein Mann mit einer Lanze stürmte auf sie zu, und sie entfloh ihm nur mit knapper Not zwischen den Kämpfenden.
    Vor sich sah sie die hohen Türme von Notre-Dame,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher