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Das Los: Thriller (German Edition)

Das Los: Thriller (German Edition)

Titel: Das Los: Thriller (German Edition)
Autoren: Tibor Rode
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Gericht für bessere Haftbedingungen geklagt und, wie so oft, gewonnen. Unter anderem stand ihm nun eine größere Zelle zu. Da es in »Santa Fu«, wie die Strafanstalt Fuhlsbüttel genannt wurde, ausschließlich sieben Quadratmeter große Einzelzellen gab, hatte man sich mit der Anstaltsleitung darauf geeinigt, dass er zukünftig zwei Zellen zur freien Verfügung erhalten sollte. Der Raum, in dem er gerade saß, diente ihm als Wohn- und Arbeitszimmer, während die Zelle nebenan sein Schlafzimmer war. All dies mussten die anderen Gefangenen aber nicht so genau wissen. Denn er genoss es, dass sie ihn für seinen Sonderstatus bewunderten. Die Tatsache, dass er als wohl einziger Häftling auf der Welt in zwei eigenen Zellen wohnte, schrieben sie seinem besonderen Einfluss zu. Wer dafür sorgen konnte, gleich zwei Zellen zugesprochen zu bekommen, der konnte hier drin vermutlich für alles Mögliche sorgen.
    »Also, wie kann ich dir helfen?«, fragte Henri seinen Mandanten und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
    »Ich habe gehört, dass Sie Anwalt sind und man Sie, wie soll ich sagen, um Rat bitten kann«, antwortete der junge Mann, der auf der Stuhlkante unruhig hin- und herrutschte.
    Henri fixierte sein Gegenüber. Als der Kerl in seiner Zelle aufgetaucht war – in seinem »Schlafzimmer«, genauer gesagt – und ihn um einen Termin bat, hatte er sofort gesehen, dass er es mit einem Alkoholiker zu tun hatte. Er schätzte ihn auf nicht älter als fünfundzwanzig, aber sein körperlicher Zustand war erbärmlich, und er wirkte ausgemergelt. Das Gesicht war hager. Ein Schneidezahn oben und einer unten fehlten, und auch ansonsten wirkte das Loch unter der Nase eher wie ein Müllschlucker als wie ein Mund. Die Augen lagen tief im Schädel und erinnerten ihn an eingeworfene Fensterscheiben. Die Haut war grau, und die Haare klebten fettig an der Stirn, hier und da erahnte man noch das Muster des Kamms. Die Finger waren gelb vom Tabak und zitterten unentwegt. Henri wettete, dass er einen »Geldbüßer« vor sich sitzen hatte. So nannten sie hier diejenigen Gefangenen, die eigentlich gar nicht zu einer Gefängnis-, sondern nur zu einer Geldstrafe verurteilt worden waren, aber dennoch hinter Gitter mussten, weil sie die erforderliche Summe nicht aufbringen konnten. Es konnte beispielsweise passieren, dass bei einer Strafe von hundert Tagessätzen à fünf Euro hundert Tage Haft anfielen: einen Tag Haft für jeden Tagessatz. Wer nicht genug Geld hatte und auch keinen Kredit aufnehmen konnte, um sich vor einer Gefängnisstrafe zu retten, war wirklich das ärmste Schwein der Welt. So sahen es auch die anderen Mitgefangenen; und dies führte dazu, dass die Geldbüßer in der Knasthierarchie ganz unten standen, gerade noch über den Triebtätern und Kinderschändern. Hinzu kam, dass sie für Geld oder Alkohol in der Regel alles taten. An ihnen probierte man den selbst hergestellten Alkohol aus, auf ihrer Haut testete man die improvisierten Tätowiernadeln, und sie lutschten den Knastschwulen den Schwanz. Für Henri jedoch war Mandant gleich Mandant, solange sie nur bezahlen konnten.
    »Hat man dir auch meine Preise genannt?«, fragte er.
    »Ja. Eine Paketmarke.«
    »Nur, wenn es ein kleiner Auftrag ist«, korrigierte Henri ihn sofort.
    Paketmarken berechtigten dazu, sich von draußen Pakete ins Gefängnis schicken zu lassen. Jedem Häftling standen nur drei Paketmarken im Jahr zu, das machte drei Pakete. Die Marken waren daher eine beliebte Währung. In guten Zeiten kam Henri auf bis zu vierzig Pakete im Jahr. Sein Rekord waren zweiundsechzig.
    »Warum brauchst du einen Anwalt?«
    »Im Sommer hat mich so eine Sau von Autofahrer überfahren. Volle Kanne in mich reingebrettert. Alles war matsch. Drei Wochen lag ich auf Intensiv und danach auf ’ner normalen Station, anschließend kam die Scheiß-Reha. Hier.« Der Geldbüßer erhob sich vom Stuhl und zog das hässliche rote Sweatshirt hoch, das zur Anstaltskleidung gehörte. Quer über die Rippen, die einzeln hervortraten, und eine Bauchhälfte zogen sich zwei große, noch frische Narben. »Mein linkes Bein sieht noch beschissener aus. Wird nie wieder ganz. Bleibt steif. Ohne was zum Rauchen wären die Schmerzen nicht zu ertragen«, nuschelte er in abgehackten Sätzen. Schließlich schwieg er und starrte Henri erwartungsvoll an.
    »Ich bin kein Arzt, ich bin Anwalt«, sagte Henri ohne jeden Anflug von Mitleid. Schon befürchtete er, dass wieder einmal jemand die Sache mit seinem
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