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Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht zwischen den Meeren: Roman (German Edition)
Autoren: M. L. Stedman
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zurückgeworfen. Die wenigen Möbelstücke – zwei Schränke und ein kleiner Tisch – hatten gewölbte Rückseiten, um in den kreisförmigen Raum zu passen, und drängten sich wie Buckelige an die Wände. In der Mitte ragte der dicke Eisenzylinder auf, der bis oben in den Laternenraum reichte und die Gewichte des Uhrwerks beherbergte, das früher die Lampe gedreht hatte.
    Eine Treppe, höchstens einen halben Meter breit, begann spiralförmig an einer Seite der Wand und verschwand in dem massiven Metallboden der Etage darüber. Tom folgte dem alten Mann in die nächste, kleinere Etage, wo sich die Spirale an der gegenüberliegenden Wand in die Etage darüber fortsetzte. Und so ging es immer weiter, bis sie in der fünften Etage, direkt unter dem Laternenraum, angelangt waren – der Verwaltungszentrale des Leuchtturms. Hier im Wachraum befanden sich die Protokollbücher, das Morsegerät und das Fernglas. Natürlich waren in einem Leuchtturm Betten oder andere Möbelstücke zum Hinlegen verboten. Aber es gab wenigstens einen Holzstuhl mit von Generationen schwieliger Hände glatt polierten Armlehnen.
    Das Barometer musste dringend geputzt werden, stellte Tom fest, bevor sein Blick auf einen Gegenstand neben den Seekarten fiel. Es war ein Wollknäuel, aus dem Stricknadeln lugten, und etwas, das wie der Anfang eines Schals aussah.
    »Vom alten Docherty«, erklärte Whittnish mit einem Nicken.
    Tom wusste, was sich Leuchtturmwärter so alles einfallen ließen, um die ereignislosen Stunden totzuschlagen: Sie schnitzten Gegenstände aus Walrosszähnen oder Muscheln oder bastelten Schachfiguren. Stricken kam ziemlich häufig vor.
    Nachdem Whittnish Tom in das Protokollbuch und die Wetterbeobachtungen eingeführt hatte, zeigte er ihm die oberste Etage, die den Scheinwerfer beherbergte. Die Verglasung der Kanzel wurde nur von einem Gitterwerk aus Astragalen unterbrochen, die die Scheiben hielten. Draußen, rings um den Turm, verlief eine Galerie, und eine steile Leiter, die an der Kuppel lehnte, führte hinauf zu dem schmalen Laufsteg dicht unterhalb der im Wind wehenden Wetterfahne.
    »Wirklich eine Schönheit«, stellte Tom fest und betrachtete die riesige Linse, viel größer als er selbst, auf ihrem Drehteller: ein Palast aus Prismen, der an einen gläsernen Bienenstock erinnerte. Das hier war das Herz von Janus, nichts als Licht, Klarheit und Schweigen.
    Ein fast unmerkliches Lächeln spielte um die Lippen des alten Leuchtturmwärters, als er sagte: »Ich kenne sie, seit ich ein kleiner Junge war. Ja, eine Schönheit.«
    Am folgenden Morgen stand Ralph am Landungssteg. »Wir stechen gleich in See. Sollen wir beim nächsten Mal alle Zeitungen mitbringen, die Sie verpasst haben?«
    »Nachrichten, die schon Monate alt sind, sind nichts mehr wert. Da spare ich lieber das Geld und kaufe mir ein gutes Buch«, erwiderte Tom.
    Ralph vergewisserte sich, dass an Bord alles in Ordnung war. »Nun, das war’s dann. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, mein Junge.«
    Tom lachte spöttisch auf. »Da haben Sie wohl recht, Ralph.«
    »Wir sind im Nu wieder hier. Drei Monate sind nicht die Welt, solange man nicht versucht, die Luft anzuhalten!«
    »Wenn Sie den Leuchtturm gut behandeln, wird er Ihnen keine Schwierigkeiten machen«, meinte Whittnish. »Sie brauchen nur Geduld und ein wenig Grips.«
    »Ich tue mein Bestes«, antwortete Tom und wandte sich an Bluey, der alles zum Aufbruch vorbereitete. »Dann also bis in drei Monaten, Bluey.«
    »Aber klar doch.«
    Das Schiff legte ab, wühlte das Wasser hinter sich auf und stemmte sich, begleitet von einem Dröhnen und einer Qualmwolke, gegen den Wind. Jeder zurückgelegte Meter drückte es immer weiter in den grauen Horizont wie einen Daumen in Knetmasse, bis es verschwunden war.
    Darauf folgte ein Moment der Ruhe. Es war nicht wirklich still, denn die Wellen schlugen noch immer an die Felsen, der Wind heulte Tom um die Ohren, und eine offene Schuppentür klopfte einen zornigen Trommelwirbel. Doch etwas in Tom war zum ersten Mal seit Jahren endlich zur Ruhe gekommen.
    Er stieg die Klippe hinauf und blieb stehen. Die Glocke einer Ziege bimmelte, zwei Hühner zankten. Und plötzlich gewannen diese nadelstichartigen Geräusche eine neue Bedeutung: Sie wurden von Lebewesen erzeugt. Tom erklomm die einhundertvierundachtzig Stufen zum Laternenraum und öffnete die Tür zur Galerie. Der Wind stürzte sich auf ihn wie ein Raubtier und stieß ihn zurück zur Tür, bis er sich mit aller Kraft
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