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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels
Autoren: Victoria Hanley
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Holztisch nieder, ihren Eltern gegenüber. »Ihr wisst, wer ich bin?«, fragte er.
    »Der Meisterpriester?«, hauchte Simon und verbeugte sich im Sitzen.
    Der Priester neigte den Kopf. »Ja. Mein Name ist Renchald.«
    Renchald. Bryn hörte Dais Stimme, brüchig und dünn von Alter und Wein, die ihr diesen Namen nannte. Ich war schon lange vom Tempel weg, als Renchald zum Meisterpriester aufstieg. Bryn blickte den großen, glatt rasierten Mann an, der da so aufrecht auf dem einzigen guten Stuhl der Familie saß, in goldglänzendem Gewand und mit undurchschaubaren grünen Augen. Weder waren seine Schultern so ausladend noch seine Brust so breit
    wie die ihres Vaters, doch irgendwie ging von ihm eine große Kraft aus. Der Meisterpriester vom Tempel des Orakels saß in der Hütte eines einfachen Steinhauers und trank ganz gewöhnlichen Tee. Warum?
    »Mit meiner Reise«, fuhr der Meisterpriester fort,
    »verfolge ich auch den Zweck, neue Helferinnen für den Dienst im Tempel des Orakels zu finden. Wie ihr vielleicht wisst, bekommen die Helferinnen sowie die männlichen Helfer, die ebenfalls dort lernen, die beste Erziehung in ganz Sorana. Einige Helferinnen steigen in den Rang einer Priesterin auf.« Er machte eine Pause. »Eure Tochter wäre dazu geeignet, eine Helferin zu werden.«
    Bryn hätte sich fast an ihrem Tee verschluckt. Über Simons Gesicht rann der Schweiß, als würde er in brütender Hitze arbeiten, statt in der Kühle der steinernen Hütte zu sitzen. Die Haut um Noras Augen zuckte, als würde sie von unsichtbaren Insekten gestochen.
    »Ich weiß nicht, wie das gehen soll«, protestierte sie.
    »Das Mädchen ist nur eine nichtsnutzige Träumerin. Die ist zu nichts anderem zu gebrauchen, als Löcher in die Luft zu starren, faul im Wald rumzulungern und mit leeren Händen zurückzukommen.«
    Bryn wollte gerade sagen, dass sie Besseres zu tun wüsste, als Löcher in die Luft zu starren, doch Renchald kam ihr zuvor. »Ach, gute Frau, ich bin nun schon mehr als zehn Jahre Meisterpriester. Glaubst du, ich könnte mich irren?«
    Bryns Mutter schüttelte den Kopf und blickte mit aschfahlem Gesicht zu Boden.
    »Die, die dem Orakel dienen, sehen, was andere nicht sehen können«, sprach der Priester weiter. »Ein Kind, das mit einer solchen Berufung geboren wurde, wird oft für einen Träumer gehalten.«
     
    Bryn trank von ihrem Tee und schluckte hundert Fragen hinunter.
    »Kann sie lesen oder schreiben?«, fragte Renchald.
    »Warum sollte die Tochter eines Steinhauers lesen und schreiben können?«, gab Simon demütig zurück.
    »Für die Tochter eines Steinhauers mag es keinen Grund geben, etwas zu lernen«, sagte Renchald. »Aber eine Priesterin des Orakels muss in der Lage sein, die Botschaften von Königinnen und Königen zu lesen.« Er wandte sich an Bryn. »Würdest du denn so etwas lernen wollen?«
    Bryn schwenkte den letzten Rest Tee in ihrer Tasse, dann stellte sie sie ab. »Ich kann lesen und schreiben«, sagte sie. Sie begegnete trotzig dem empörten Blick ihrer Mutter. »Dai hat es mir beigebracht.« Wäre der Priester nicht da gewesen, hätte ihre Mutter sie sicherlich wütend angeschrien. An Renchald gewandt, erklärte Bryn: »Der Dorfpriester, Dai.«
    »Aha.« Wenn er von Dai wusste, sagte er es nicht.
    »Wie lange hat er dich unterrichtet?«
    »Viele Jahre lang. Ich hab alle seine Bücher gelesen, mehrfach.«
    »Aha«, sagte er wieder, und in seinen Augen flackerte etwas auf, das Bryn nicht deuten konnte.
    »Das verstehe ich nicht.« Simon klang, als hätte ihm gerade jemand gesagt, dass der Steinbruch, in dem er sein Leben lang gearbeitet hatte, eigentlich gar kein Steinbruch war.
    »Die Wege der Götter sind unergründlich«, antwortete Renchald.
    Die Götter. Soweit sich Bryn erinnern konnte, hatte ihre Mutter sich immer über die Götter beschwert, hatte gefragt, warum sie sie fünf Söhne gebären ließen, um ihr dann erst die Tochter zu schenken, auf die sie schon immer gehofft hatte. Aber was für eine Tochter! Ein Mädchen, das das Essen anbrennen ließ, wenn es sich darum kümmern sollte, das durch Felder und Wälder streifte und mit Beerenflecken auf den schäbigen Kleidern und lächerlichen Lügen auf den Lippen nach Hause kam. Lügen über Leute, die sie nie getroffen hatte, und Orte, an denen sie nie gewesen war. Warum nur, wollte Nora von den Göttern wissen, hatten sie ihr ein solches Kind gegeben.
    Ihr Vater bat die Götter jeden Morgen und jeden Abend um ihren Segen, doch seine
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