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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels
Autoren: Victoria Hanley
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niedergelassen hatte, Uste hieß. Wie gern wäre Bryn alleine auf diesem wundervollen Pferd zu all ihren Lieblingsplätzen geritten. Zu Hause würde dieser wichtige Mann ihrer Mutter nur erzählen, wie närrisch sie sich benommen hätte, wie unbedacht sie ihm vor die Füße gelaufen war.
    »Dann los«, befahl der Priester und trieb sein Pferd zum Trab an.
    Bryn ritt hinter ihm. Sie wünschte, Dai wäre hier und würde ihr erklären, wer dieser hohe Priester wohl war - aber um diese Tageszeit würde sich Dai wahrscheinlich alleine im Haus des Tempels befinden. Er nannte es seine Gebetszeit, aber Bryn wusste, dass er in die Kontemplation von Weinflaschen versunken war, statt sich auf die Verehrung der Götter zu konzentrieren.
    Die Dörfler liefen aus ihren Werkstätten zusammen und verbeugten sich vor dem rot gewandeten Priester, der den Zug der Reiter anführte. Als er seinen blitzenden Ring hob, verbeugten sie sich noch tiefer. Beunruhigt blickte Bryn auf den Ring. Er hatte die Form des goldenen Knotens, des Knotens, der den Göttern geweiht war.
    Dai hatte ihr erzählt, dass der Meisterpriester des Orakels diesen Ring der Götter trug. Und niemand außer dem Meisterpriester darf ihn tragen, hatte er gesagt und sie mit seinen trüben Augen angesehen, die von vielen kleinen Runzeln umgeben waren.
    Konnte es sein, dass der Meisterpriester selbst das armselige Dorf Uste besuchte? Das war unwahrscheinlich. Der Tempel des Orakels lag weit entfernt, jenseits der Lydenwüste im Süden. Wichtige Leute kamen eigentlich nie durch Uste. Der hiesige Steinbruch war ziemlich unbedeutend, und wer Steine brauchte, um starke Mauern und schöne Häuser zu bauen, schickte Arbeiter, um die Steine abzutransportieren, aber keine berühmten Priester.
    Der Zug kam an der Bäckerei am Ende des Dorfes
    vorbei. Als er sich dem Steinbruch näherte, füllte sich die Straße mit immer mehr Männern und Jungen aus dem
    Steinbruch, die Steinhämmer noch in der Hand. Aus ihrer Mitte eilte eine Frau herbei, Bryns Mutter Nora. Irgendjemand musste mit den Neuigkeiten zum Steinbruch vorausgeeilt sein.
    Nora stieß durch die drängelnden Steinhauer bis ganz nach vorne. Als sie sah, wer vor ihrer Tochter ritt, wurde ihr Gesicht kalkweiß. Sie verbeugte sich tief. Simon, Bryns Vater, kämpfte sich ebenfalls durch, bis er neben seiner Frau stand. Auch er verbeugte sich fast bis zum Boden.
    »Ihr seid die Eltern dieses Mädchens?« Die Stimme des Priesters durchdrang das Gemurmel um ihn herum.
    »Ja, Herr.« Noras Gesicht verhärtete sich. »Was auch immer sie getan hat, bitte vergebt ihr. Sie weiß nicht, was sie tut.«
    »Sie hat nichts getan, worüber man sich beschweren musste. Ich bin gekommen, um ihre Eltern aufzusuchen.
    Wenn ihr also so freundlich wärt, mich in eurem Haus zu empfangen, will ich mit euch und eurer Tochter sprechen. Alleine.« Dem letzten Wort hatte er nur ein bisschen Nachdruck verliehen, doch schon fing der Haufen von Männern und Jungen an, sich aufzulösen und zum Steinbruch zurückzukehren. Unglaublich. Bryn hatte noch nie jemanden mit einer solchen Autorität erlebt.
    »Unser Haus ist ganz in der Nähe, Euer Ehren, aber wir haben nur Platz für ein Pferd«, sagte Simon mit einem Blick zu der Gruppe von Reitern hinter dem Priester.
    »Ich verstehe.« Der Priester stieg ab. Er nickte Bolivar zu, der vom Pferd sprang und Bryn aus dem Sattel hob.
    Mit gesenktem Blick ging Bryn hinter dem Priester her, der ihren Eltern über den von Generationen von Steinhauern ausgetretenen Pfad folgte. Der Rest des Zugs
    blieb schweigend zurück. Bryn schaute erst wieder auf, als sie dicht vor der Hütte waren, in der sie lebten. Fünfzehn Jahre lang war sie ihr Zuhause gewesen, und doch schien es ihr, als sähe sie sie zum ersten Mal. Erstjetzt stachen ihr das durchhängende Vordach und die fleckigen Wände in die Augen.
    Der Priester beugte sich nieder, um in die Hütte zu kommen. Bolivar blieb als aufmerksamer Beobachter draußen vor der Tür.
    Drinnen rückte Simon den guten Stuhl für den Gast zurecht. Nora kochte Tee, während Bryn einfach nur dastand und zuschaute. Nora holte die weiße Porzellantasse mit den aufgemalten Veilchen heraus, die ihrer Großmutter gehört hatte und die Bryn und ihre Brüder niemals berühren durften.
    »Es tut mir Leid, Euer Ehren, aber wir haben keinen Zucker«, sagte Nora.
    »Ist nicht nötig. Ich trinke Tee nie mit Zucker.« Der Priester bedeutete ihnen, sich zu setzen. Bryn sank auf die Bank an dem alten
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