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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels
Autoren: Victoria Hanley
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bewegte, sackte sie zurück auf ihre Fersen und schnappte wie ein atemloses Tier nach Luft.
    »Sei nicht traurig«, sagte Renchald leise. »Wahrscheinlich hat er schon jahrelang mit Schmerzen gelebt.«
    Er sah zu Nirene hoch. »Bring Bryn nach draußen. Ich will die letzte Segnung vornehmen.«
    Der Blick des Mädchens war völlig ausdruckslos. Ihre großen Augen füllten sich mit Tränen und sie sah noch verlorener aus als zuvor. Sie war offensichtlich zu einfältig, um zu begreifen, welches Glück Dai hatte. Der Meisterpriester selbst würde ihm die letzte Segnung erteilen!
    Darauf hoffte jeder Priester.
    »Komm!«, sagte Nirene energisch und schnippte mit den Fingern.
    Bryn wischte sich mit ihren schmutzigen Händen die Tränen ab, was noch mehr Streifen auf ihrem Gesicht hinterließ. Dann stand sie auf und Nirene fasste sie fest am Ellenbogen. Im Eingang hielt Bryn an, blickte sich noch einmal um und sah, wie der Meisterpriester sich über den Toten beugte, aber Nirene zog sie weiter.
    Draußen stach ihnen das Sonnenlicht in die Augen.
    Vom Pferd herab spottete Clea: »Warum weinst du? Ist das deine einzige Art, dich zu waschen?«
    »Sei still«, sagte Nirene, »ihr Priester ist tot.«
    Clea schnaufte verächtlich. »Woran ist er denn gestorben? Vor Scham?«
    Bryn sah sie an. »Er war mehr, als du je sein wirst«, sagte sie.
    »Was für eine Grabrede«, gab Clea zurück. »Mehr als ich? Ohne Zweifel hatte er erheblich mehr – nämlich Dummheit.«
    Bryn antwortete nicht, sondern kehrte ihr nur den Rücken zu. Clea lächelte verschlagen.
     
    Auf dem Weg nach Tunise ließ der Meisterpriester den Reiterzug an jeder Kreuzung halten. Dort opferte er Wein und betete zu Winjessen, dem Gott des Reisens und des Lernens.
    Nach mehreren Kreuzungen überraschte Bryn, die
    schwer in ihrem Sattel hing, Nirene mit der Frage: »Warum muss Winjessen immer wieder daran erinnert werden, über unsere Reise zu wachen? Denkt er zu langsam und vergisst zu schnell?«
    »Pst!«, sagte Nirene und war froh, dass der Meisterpriester zu weit entfernt war, um sie zu hören. »Rede nicht über Dinge, von denen du nichts verstehst.« Wie bemerkenswert ungebildet dieses Mädchen doch war!
    Aber nach dem Zustand seines Priesterhauses zu schließen, hatte ihr Dorfpriester offenbar alles vergessen, was er im Tempel in seiner Jugend gelernt hatte.
    Clea kicherte. »Die weiß doch überhaupt nichts. Warum schubst du die nicht in die Jauchegrube zurück, aus der sie gekrochen ist?«
    Bryn blieb ruhig und streichelte ihr Pferd.
    Als sie die Stadt Tunise erreichten, flog Bryns Kopf von rechts nach links. Mit großen Augen sah sie sich das lebhafte Treiben auf den Straßen an. Unter flatternden orangen, gelben und blauen Markisen priesen bunt gekleidete Straßenverkäufer den Passanten ihre Waren an.
    Horden von Kindern umringten die Händler und lauerten auf die Gelegenheit, etwas zu stehlen. Kaufleute feilschten mit ihren Kunden.
    Schließlich gelangte der Zug bei dem Gasthaus an, in dem sie übernachten würden. Nach dem Essen wurden Nirene und den beiden Mädchen, für die sie verantwortlich war, eine enge, dunkle Kammer mit drei schmalen Bettstellen zugewiesen.
    Clea stand mitten im Raum und ließ ihrem Zorn freien Lauf. »Das hier ist nicht besser als die Hütte eines Tagelöhners! Nirene, bestelle mir ein Bad und ein besseres Zimmer!«
    Nirene nahm all ihre Geduld zusammen. »Tunise ist keine reiche Stadt. Die Unterkünfte sind unzureichend, wie du ja wohl sehen kannst. Ich kann sie nicht besser machen. Wenn du in den Tempel kommst, wirst du nicht mehr Platz für dich haben als hier. Du gewöhnst dich also besser schon mal dran.« Sie zeigte auf den Waschtisch in der Ecke. »Wir waschen uns hier.«
    Jetzt stürzte sich Clea auf Bryn. »Ich stamme von König Zor ab. Neben dieser Ratte werde ich nicht schlafen und auch nicht denselben Waschtisch wie eine wie sie benutzen. Die sieht ja aus, als hätte sie noch nie in ihrem Leben gebadet!«
    »Ich bade im Steinbruch«, sagte Bryn heftig, »wo das Wasser tief ist.«
    Clea zog die Nase kraus. »Und im Winter? Was
    machst du dann – wartest auf Tauwetter, was?« Sie ballte die Fäuste. »Nirene, schmeiß sie raus!«
    »Du kannst keine Mithelferin ausschließen, Clea.
    Wenn du nicht hier schlafen willst, kannst du auf den Flur gehen.«
    Clea warf sich auf das Lager, das der Wand am nächsten war, und drehte den Kopf zur Seite.
     
    Während Bryn sich wusch, hatte sie das Gefühl, zusammen mit dem Staub
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