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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels
Autoren: Victoria Hanley
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jemanden von den Helferinnen oder Helfern auserwählt haben.«
    »Wie treffen die Götter ihre Wahl?«, fragte Bryn.
    »Wenn du auserwählt bist, kommt ein Vogel geflogen, lässt sich zu deinen Füßen nieder und übergibt dir eine Feder. Danach fängt deine Ausbildung zur Priesterin an.
    Bei einem Jungen ist es genauso, nur dass er ein Priester wird«, sagte Nirene barsch. Bryn fiel wieder ein, dass Nirene nie Priesterin geworden war. Also war es wohl so, dass kein Vogel sie erwählt hatte. Und was ist, wenn Clea Recht hat und mich auch kein Vogel erwählt?
    Clea hatte gesagt, der Geier würde von allen am meisten respektiert. Warum sollte ein Geier respektiert werden? Bryn kannte Geier – große, hässliche Viecher mit starren Augen, die sich von Aas ernährten.
    Während sie weiterritten, verschwanden die steinigen Hügel, die Felder und Wälder. Die karge Landschaft erinnerte Bryn an den Kuchen, den sie einmal hatte anbrennen lassen. Der kostbare Zucker, den Nora ihr gegeben hatte, um die Oberfläche zu glasieren, war zu einer bitteren braunen Kruste zerschmolzen. »Wo sind die Bäume geblieben?«, fragte sie.
    Nirene schob ihren Hut zurecht. »Du wirst keine Bäume mehr sehen, bis wir die Wüste durchquert haben.«
    Die Sonne brannte heiß und grell. Bryn war froh über ihren Hut und die volle Wasserflasche, die an ihrem Sattelhorn hing. Neugierig ließ sie den Blick schweifen.
    »Nirene, was ist das denn?« Sie zeigte nach vorne. Ein graubrauner Haufen lag neben der Straße, noch zu weit entfernt, als dass man mehr erkennen konnte.
    Nirene, links von Bryn, scherte etwas aus, schüttelte den Kopf und lenkte ihr Pferd wieder in die Reihe. Als Renchald auf gleicher Höhe mit dem unbekannten Objekt war, bewegte es sich. Bryn erkannte eine junge Frau in zerlumpten Kleidern, die am Straßenrand kniete, ihre zerschlissenen Ärmel flatterten im Wüstenwind, als sie die Arme hob. »Haltet an!«, rief sie mit rauer Stimme.
    Aber Renchald stoppte nicht, ließ nicht einmal sein Pferd langsamer werden. Bryn hielt den Atem an und fragte sich, ob sie wieder einmal etwas sah, was die anderen nicht sehen konnten. Niemand sonst schien die arme Frau zu hören, die mit heiserer Stimme rief: »Ihr tut also, als würdet Ihr mich nicht sehen? Ellerth wird Euch begraben, Renchald. Ich hab es gesehen!«
    Nicht ein einziges Pferd wurde langsamer. Kein einziger Kopf wandte sich der Frau zu. Das musste eine Erscheinung sein, die nur Bryn sehen konnte. Sie erwartete, dass es sich damit verhalten würde wie mit ihren anderen Visionen, die irgendwann anfingen zu flimmern und dann verschwanden. Doch als ihre Stute der jungen Frau näher kam, sah sie nur noch wirklicher aus. Zerzaustes Haar hing um ihr sonnenverbranntes Gesicht, ihre Lippen waren aufgesprungen und hatten geblutet. Nun war das Blut getrocknet. Halb wahnsinnige, haselnussbraune Augen blickten Bryn direkt an.
    »Kehr um, solange du noch kannst«, schrie sie und ihre kratzige Stimme schwoll zu einem Kreischen an. »Du weißt nicht, wer die sind! Du gehörst nicht zu ihnen!«
    Um langsamer zu werden, zog Bryn an den Zügeln, doch Nirene neben ihr packte das Zaumzeug und zog die Stute weiter. Als sie auf gleicher Höhe mit der jungen Frau waren, hob diese die Hände. »Bitte, Wasser!«
    Bryn nahm die lederne Flasche vom Sattelhorn und warf sie ihr zu, wobei sie fast selbst vom Pferd gefallen wäre. Die Frau fing die Flasche auf, und als Bryn zurückblickte, sah sie sie den Stöpsel herausreißen und trinken.
    Als sie den Hals nicht weiter nach hinten drehen konnte, wandte sich Bryn wieder nach vorn. Nirene warf ihr die Zügel wieder zu.
    »Wer war das?«, fragte Bryn.
    Nirene gab keine Antwort.
    Da wurde Bryn mit einer Gewissheit, die ihren ganzen Körper durchdrang, klar, dass Nirene nur vorgab, sie hätte nichts gesehen und gehört, dass alle in der Reisegesellschaft, einschließlich des Meisterpriesters selbst, die unglückselige Gestalt am Straßenrand mit voller Absicht übersehen und dem Tod überlassen hatten.
    Aber warum? Waren diese Leute nicht verpflichtet, den Göttern zu dienen? Dai hatte so oft gesagt, die Götter würden Freundlichkeit gegenüber den Bedürftigen mit Wohlwollen betrachten. Warum hatten sie dann die verdurstende junge Frau so herzlos behandelt?
    Sie musste etwas Schlimmes getan haben.
    Kehr um, solange du noch kannst. Du weißt nicht, wer die sind!
    Doch Bryn konnte nicht umkehren. Sie wäre nicht in der Lage, allein nach Uste zurückzulaufen.
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