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Das Licht des Orakels

Titel: Das Licht des Orakels
Autoren: Victoria Hanley
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dem Meisterpriester gegenüber. Außer ihnen war noch Bolivar anwesend.
    »Du sagst, die Tochter des Steinhauers hat Selid ihre Wasserflasche zugeworfen?« Einen Augenblick lang schien Renchald erschüttert.
    »Ja, Euer Ehren. Zur Strafe habe ich ihr kein Wasser mehr gegeben. Als wir hier ankamen, war sie nicht mehr in der Lage zu stehen, und ich habe sie draußen liegen gelassen. Was wünscht Ihr, dass ich jetzt mit ihr mache?«
    Der Meisterpriester tippte die Zeigefinger gegeneinander und blickte Bolivar an. »Stell einen verschwiegenen Posten auf, er soll über das Mädchen wachen. Sieh zu, dass ihr nichts passiert. Erlaube ihr, sich selbst zu behelfen, aber unterstütze sie nicht.« Der Soldat nickte. Renchald wandte sich wieder zu Nirene. »Bryn kann sich uns morgen wieder anschließen, wenn sie das aus eigener Kraft schafft. Gestatte ihr zum Frühstück Wasser, aber gib ihr keines, wenn wir unterwegs sind.«
    »Und Selid?«, fragte Bolivar. »Sollen wir etwas unternehmen?«
    Renchald schnalzte leicht mit der Zunge. »Selids Urteil lautete, dass sie ohne Wasser in der Wüste ausgesetzt werden sollte. Das ist geschehen. Die Göttin Monzapel muss sie wohl noch immer begünstigen, aber lange kann sie nicht mehr am Leben bleiben, sie ist dem Tod geweiht. Lass Keldes auf seine Art mit ihr verfahren. Wir brauchen nicht einzuschreiten.«
     
    Zitternd wachte Bryn auf und spürte erschrocken, dass ihr etwas über den Nacken krabbelte. Heftig schüttelte sie den Kopf und blickte finster zu den fernen Sternen über dem verlassenen Hof des Gasthauses auf. »Du bist in Ordnung«, flüsterte sie sich selbst verbissen zu. Ihre Zunge fühlte sich geschwollen und wie betäubt an. Bryn stieß ein krächzendes Lachen aus: »Jedenfalls auf deine Art.«
    Niemand schien in der Nähe zu sein. Den Soldaten, der im Schatten stand und über sie wachte, bemerkte sie nicht. Hinter ein paar Fenstern des Gasthofs brannte Licht, aber es sah zu weit entfernt aus, um dorthin zu gelangen. Der Stall war näher. Mühsam kroch sie darauf zu.
    Keuchend und zitternd gelangte sie schließlich bis zum Pferdetrog. Mit letzter Kraft stemmte sie sich über seinen Rand und tauchte den Kopf in das Wasser, um endlich den Sand der Wüste abzuwaschen. Dann pumpte sie neues Wasser und hielt erleichtert das Gesicht unter den Zapfen. Nachdem ihr größter Durst gelöscht war, richtete sie sich mühsam auf und suchte sich ein Bett aus Heu in der Nähe der weißen Stute.
     
    Ganz fest drückte Selid, ehemalige Helferin im Tempel des Orakels, erwählt vom roten Kardinal, die wertvolle Wasserflasche an sich, die ihr ein unbekanntes Mädchen zugeworfen hatte, und folgte weiter alleine dem Pfad des Mondes. Monzapels Licht hatte nie schöner geschienen –
    mit silbernen Fingern berührte es sachte Selids Schultern und leitete sie. Der Schmerz der letzten beiden Tage war verflogen, Tage, die sie in Solz’ unablässiger Hitze verbracht hatte. Selid wusste, dass ihre verbrannte Haut wie Feuer brennen und ihre geschundenen Füße, die voller Blasen waren, eigentlich wehtun müssten. Doch stattdessen, behütet und geleitet von Solz’ sanfter Schwester Monzapel, Göttin des Mondes, schwebte sie in einer Wolke des Wohlbehagens.
    Als dann die Morgenröte aufstieg und das kühlere Licht des Mondes verdrängte, sah Selid eine Stadt vor sich liegen. Tränen der Dankbarkeit stiegen ihr in die Augen. »Ich danke dir, Monzapel«, sagte sie zum verblassenden Mond. »Ich danke dir. Und wache über die, die mir das Wasser gegeben hat.«
     
    Ganz schwindelig vor Hunger schleppte sich Bryn bei Sonnenaufgang in die Gaststube. Als sie zu den anderen kam, wurde sie zwar nicht gegrüßt, aber auch nicht fortgeschickt. Zusammen mit den anderen Tempelreisenden bekam sie Frühstück und aß gierig.
    »Wo hast du eigentlich deine Manieren gelernt?«, fragte Clea. »Im Schweinestall?«
    Bryn trank weiter ihre Milch und empfand dabei ein starkes Verlangen, einen Teller auf Cleas Kopf zu zertrümmern.
    Beim Aufbruch bemerkte Bryn, dass sie keine Wasserflasche am Sattelhorn hängen hatte. Ihr Mund wurde trocken, aber die Qualen, die sie empfand, als sie bei einer Rast Clea unbeschwert aus ihrer Flasche trinken sah, waren schon geringer als am Vortag. Sie sagte sich, dass sie sich den Göttern als würdig erweisen würde, wenn sie das alles mit erhobenem Kopf und ohne zu klagen ertrüge. Denn sie wollte, dass die Götter ihr eine Feder schickten. Aber keine Geierfeder, sondern eine richtig
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