Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
Gesicht zum nächsten, bis der Kreis durchlaufen ist. Dann beginnt es von vorn. Der innere Kreis ist ein enger Kreis, in dem die Blicke hin und her fliegen, hier geschieht auf kleinem Raum viel, und es geht kein Blick verloren. Jeder Blick bleibt im Kreis und kann auch gefahrlos dort bleiben. Denn nach Feinden halten die Männchen Ausschau, fernab des inneren Kreises patrouillieren sie an den Grenzen des Territoriums. Sie sind der äußere Kreis, und ihre Blicke sind ins Unbekannte gerichtet. Die Männchen schauen gemeinsam in die Ferne. Etwas knistert im Unterholz, und die Blicke aller Männchen richten sich darauf. Der äußere Kreis ist ein nach außen gestülpter Kreis. Die Blicke gehen nicht nach innen, sondern nach außen. Die Männchen hören und riechen einander, aber sie schauen einander nicht an, während sie von Busch zu Busch weiter ins Neuland vordringen. Einer entdeckt ein Tier, das noch nie jemand vor ihm gesehen hat. Er ruft die anderen herbei, und hinter Blättern verborgen bestaunen sie das Tier. Sie beobachten es. Und dann töten sie es.
    In der Luft
    Berlin, kalt, sonnig. Evren, der sie am Flughafen abholte, mit Blumen für Miriam und einer Flasche Wein für Martens. Evren ohne Bart, die Haare kurz geschnitten, eine Lederjacke, darunter ein weißes Hemd. Martens in seinen Bundeswehrkleidern. Evren legte Miriam den Arm um die Schulter, als sie in der kristallenen Novemberluft zum Taxistand gingen. Evren mild, sein Blick besänftigt, seine Stimme ruhig, vielleicht Medikamente. Miriam hatte von einer Therapie gesprochen, von einem Traumatologen und davon, dass Evren Fortschritte mache. Im Taxi schlief Martens ein.
    Drei Tage lag er fiebernd in seiner kleinen Wohnung. Der Geiger spielte das Allegro moderato, das Bett der Nachbarin über ihm ritt über das Parkett. Busch rief an, bot ihm ein hohes Honorar für eine Reportage über sein Leben mit den Taliban. Am vierten Tag setzte Martens sich an sein Notebook und schrieb, als schaue Seegemann ihm über die Schulter. Der Text diente einzig der Verschleierung dessen, was geschehen war: falsche Namen, andere Örtlichkeiten, aus drei Eseln machte Martens fünf, aus einer Bazooka vier. Er ließ Miriam unerwähnt, unterschlug Evren, wurde an keiner Stelle persönlich – am Schluss blieb nichts übrig, das zu lesen sich gelohnt hätte.
    Lass dir Zeit, sagte Busch, du bist noch zu nahe dran, schreib erst, wenn du Abstand gewonnen hast.
    Abstand.
    Martens setzte sich in seinen Wagen, der fünf Monate lang nicht bewegt worden war, an der Kreuzung starb der Motor ab. Die defekte Drosselklappe. Zwei junge Türken halfen ihm, den Wagen auf einen Behindertenparkplatz zu schieben. Martens legte einen Zettel aufs Armaturenbrett, Wagen defekt, muss abgeholt werden. Er ging zu Fuß weiter, es begann zu regnen.
    In einem Kaufhaus suchte er nach einer neuen Hose, die Verkäuferin taxierte ihn und sagte, ich würde Ihnen zu einer Slim Fit raten, Sie sind ja schlank. Er kaufte die Hose, und im Selbstbedienungsrestaurant im obersten Stock des Kaufhauses stand er vor der Fülle an Speisen und Getränken. Er griff sich irgendetwas heraus, etwas Flüssiges gegen den Durst und etwas Festes gegen den Hunger. Mit dem Tablett ging er zu einem Tisch. Er setzte sich und aß und trank.
    Es hatte ihm bei Yousef besser geschmeckt.
    Er schaute sich um und sah, dass die Leute diese Speisen mit unbewegtem Gesicht aßen, niemand genoss, was er hier aß. Aber das, was niemand mit Genuss aß, war in enormer Menge verfügbar, man konnte sich gar nicht vorstellen, wer all diese Nahrung, die sich in den Vitrinen türmte, heute noch essen sollte. Und wenn in der Küche des Selbstbedienungsrestaurants auch Roboter zu kochen schienen, die die Speisen mit ihrem Robotergaumen abschmeckten, so wurde hier doch niemand beschossen, während er sein fades Schweineschnitzel aß. Hier waren alle Sehnsüchte des inneren Kreises verwirklicht. Es gab Nahrung im Überfluss, und eine Heizung spendete Wärme. Niemand musste befürchten, von einem Feind überfallen zu werden, man war in Sicherheit, und nicht nur im Selbstbedienungsrestaurant: Man konnte es gefahrlos verlassen. Denn auch draußen auf der Straße und wo immer man sich in Berlin hinbegab, wurden die Wünsche des inneren Kreises nach Sicherheit, Nahrung, Wärme und Kommunikation erfüllt. In ganz Deutschland hatten sich die Bedürfnisse des inneren Kreises durchgesetzt, und Martens fand es schön zu sehen, wie hier Männer und Frauen am selben Tisch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher