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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Autoren: Linus Reichlin
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Schauer des Wohlbehagens gleich wieder einzuschlafen. Der Beifahrersitz, auf dem er saß, war eine Wolke aus Stoff und Stahlfedern, man versank behütet darin und wurde durch Quietschen und sanftes Schaukeln verwöhnt – zum ersten Mal seit Monaten Polsterung! Keine Steine im Rücken, keine Kälte, die beim Sitzen auf nackter Erde in den Körper kroch. Martens hatte Schwebeträume, er schwebte auf einem kleinen Zeppelin liegend über Kabul, nur eine Handbreit über den Köpfen der Menschen. Eine alte Frau zerkratzte ihm mit ihren Fingernägeln die Arme, und er erwachte. Der Wagen stand, die Türen offen, der Fahrer, dem zwei Finger fehlten, saß mit untergeschlagenem Bein auf einem Felsbrocken und zog mit dem Messer Furchen in eine Wassermelonenhälfte. Als Miriam sah, dass er wach war, fragte sie, möchtest du etwas essen? Wir haben Melone, Pistazien und Fladenbrote. Martens schüttelte den Kopf, er war zu müde, um zu essen, er hatte gar nicht gewusst, wie erschöpft er war. Mit dem Blick auf die Wassermelone schlief er wieder ein. Er träumte von Malalai, sie saß in einem Rock am Feuer, und Yousef berührte mit seinem kleinen Finger Martens’ Glied.
    Es war Nacht, als sie im Camp ankamen. Das Lager war verdunkelt, aber der Vollmond schien, sein Licht tat Martens in den Augen weh. Miriam merkte, dass mit ihm etwas nicht stimmte, sie legte die Hand auf seine Stirn, sie sagte, du hast Fieber.
    Nolting begrüßte sie wie alte Freunde, er roch nach Bier. Er führte sie zur selben Baracke, in der sie letztes Mal untergebracht worden waren, er sagte, Sie kennen sich hier ja schon aus. Martens legte sich aufs Bett, seine Wangen glühten unter den Augen. Er fror und schwitzte. Miriam schnürte seine Schuhe auf, er sagte, nein, das möchte ich selber machen.
    In all der Zeit hatte er nur diese Socken gehabt, es war nicht mehr viel von ihnen da.
    Er schlief ein und verhedderte sich in einem repetitiven Traum. Er stand am Spültrog und musste abwaschen. Aber er konnte den Dosierverschluss der Spülmittelflasche nicht öffnen. Man musste den Verschluss anheben und dann drehen, und das tat er auch, aber der Verschluss rastete nicht richtig ein. Ohne Unterlass fingerte er an dem Verschluss herum.
    Eine Lazarettärztin befreite ihn aus dem Traum. Sie maß sein Fieber, drückte ihm mit einem Spachtel die Zunge hinunter. Sie hatte ein gutes, ehrliches und hübsches Gesicht.
    Ich stinke, sagte Martens, und sie sagte, machen Sie sich darüber mal keine Sorgen, ich habe hier schon ganz anderes gerochen. Wann geht Ihr Flug?
    Ich weiß nicht, sagte er.
    Übermorgen, sagte Miriam.
    Sie zogen ihm die Kleider aus und steckten sie in Mülltüten. Sie gaben ihm ein langes Hemd, er setzte sich im Bett auf und zog es selber an. Es roch wie Frühling.
    Das kann er nicht mehr tragen, hörte Martens die Ärztin zu Miriam sagen. Das wird nie wieder richtig sauber. Hat er nur diese Kleider dabei?
    Martens schlief wieder ein und stand am Spültrog. Er konnte den Verschluss der Spülmittelflasche nicht öffnen. Es schien so einfach zu sein, aber es funktionierte nicht.
    Am nächsten Tag ging es ihm besser. Über der Lehne des Stuhls lagen frische Kleider, eine Uniformhose, ein Uniformhemd, Socken, Unterwäsche. Auf dem Tisch lag ein Zettel.
    Falls du erwachst, bevor ich da bin: Wir mussten deine Kleider wegwerfen, und sie haben leider nichts anderes. Aber du siehst in der Uniform bestimmt gut aus!
    Der Zettel rührte ihn, und als er sich wieder ins Bett legte, behielt er ihn in der Hand.
    Seegemann besuchte ihn, der Burgherr mit der Habichtsnase, der Duft seines Rasierwassers erinnerte Martens an ferne Erlebnisse, an das Abendessen mit Seegemann und Nolting, und Miriam hatte Seegemann die Hand gelesen. Im Nachhinein verstand Martens, was sie damals dazu bewogen hatte: Sie hatte es sich von der Seele reden wollen. Ich sehe, dass Sie in Ihrem Leben jemanden belogen haben. Jemanden, den Sie nicht gut kannten. Aber Sie hatten keine andere Wahl. Sie hatte in Seegemanns Hand geschaut und über sich gesprochen, und über mich, dachte Martens.
    Seegemann erkundigte sich nach Martens’ Befinden, wartete die Antwort aber nicht ab. Er benutzte das Wort vernehmungsfähig. Die Stabsärztin hat mir Ihre Vernehmungsfähigkeit bestätigt, sagte er.
    Er stellte Fragen.
    Schildern Sie mir bitte den genauen Hergang Ihrer Entführung.
    Wie hieß der Anführer? Sein Stellvertreter? Alle Namen sind für uns wichtig – auch wenn Sie nur die Vornamen kennen, nennen Sie
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