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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Autoren: Linus Reichlin
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umsah. Es waren fließende Bewegungen von großer innerer Stimmigkeit. Diese Frau befand sich ganz in ihrem Körper, sie war mit ihm bis in die Fingerspitzen befreundet, sie bewegte sich mit der natürlichen Anmut einer Qualle – das war ein Kompliment. Für Martens gab es in der Natur keine vollkommenere Harmonie zwischen Wille und Bewegung als bei einer Meduse, die einzig durch das Kräuseln ihres Schleiers zur Wasseroberfläche hochschwebt. Er bewunderte den Gang der Frau, wie leicht das Gewicht sich auf den kleinen, federnden Füßen fortbewegte! Es war keine Schwere erkennbar, nur Schwung und Melodie.
    Als sie sich setzte, fand er Zeit, ihr Gesicht zu betrachten. Ihr Haar war schwarz, seidenes, glänzendes Haar, das sie kurz trug, wahrscheinlich, um nicht den Erwartungen zu entsprechen. Sie war sehr hübsch durch die großen, dunklen Augen und den vollen Mund, die kleine, schmale Nase. Mit längerem Haar hätte jeder beliebige Mann sie als Schönheit empfunden. Aus der Art ihrer Bewegungen schloss Martens, dass sie keinen Wert darauf legte, eine gängige Schönheit zu sein.
    Sie spürte sein Interesse und blickte plötzlich zu ihm herüber, und noch über die Distanz erhielt sich die Intensität ihres Blicks, der ihn mit sanfter Wucht traf. Als Martens lächelte, hatte sie sich bereits wieder ihrem Kind zugewandt, dem kleinen Jungen, der sich mit den Fäustchen die Augen rieb und dann den Kopf auf die Knie der Mutter legte. Sie strich ihm über den Rücken. Der Kleine war müde, Martens schätzte ihn auf fünf. Müde Kinder bedeuteten Schwierigkeiten, und bis die Nummer der Frau auf der Leuchttafel erschien, konnte noch sehr viel Zeit vergehen, denn soeben erst leuchtete 144 auf. Martens wartete schon über eine Stunde und war immer noch nicht dran, was bedeutete, dass die Frau mit zwei Stunden Wartezeit rechnen musste, wenn nicht mehr. Wie sollte sie ihr Kind so lange bändigen? Der Kleine wollte nicht schlafen. Er wollte sich nicht auf den Schoß der Mutter setzen und nicht auf den freien Stuhl neben ihr. Die Müdigkeit quälte ihn, und er fand die ganze Welt nur noch doof. Er zerriss ein Stück Papier in kleine Fetzen, die er herumwarf. Jetzt sollt ihr mal sehen, wie schlimm es ist, wenn man so müde ist wie ich! Jetzt schmeiß ich eben diese Fetzchen rum, selber schuld! Die Frau ermahnte ihn, die Fetzchen aufzuheben, aber nein, er wollte die jetzt nicht aufsammeln. Die lagen genau da, wo sie liegen mussten.
    Dann stieg er auf den Stuhl. Er sprang vom Stuhl hinunter und kletterte wieder hinauf. Er sprang erneut hinunter, stürzte und weinte. Die Frau tröstete ihn, sie zog etwas aus ihrer Handtasche, ein Kartenspiel. Der Kleine schlug danach, das Päckchen fiel auf den Boden. Die Frau sammelte die Karten ein, und in diesem Moment wirkte sie völlig erschöpft, ihr Gesicht wurde klein und leer.
    Und auf der Tafel leuchtete immer noch die Nummer 144.
    Martens war froh, dass nicht er für dieses Kind verantwortlich war, dass nicht er es noch zwei Stunden lang irgendwie stillhalten musste. Vor vielen Jahren war Nives, seine Tochter, selber fünf gewesen, er wusste genau, was der Frau bevorstand.
    Bei 146 rannte der Kleine aus dem Warteraum, und die Frau folgte ihm und holte ihn wieder herein. Ihre Bewegungen waren jetzt weniger harmonisch, etwas Eckiges, Abruptes schlich sich ein.
    Martens stand auf und ging hinüber zu den beiden.
    Und zum ersten Mal sprach er mit Miriam.
    Nehmen Sie meine Nummer, sagte er, ich glaube, der Kleine ist müde, dann sind Sie früher wieder zu Hause.
    Sie war ganz erstaunt, sie sagte, das ist sehr nett von Ihnen, vielen Dank, aber es geht schon.
    Ach, das macht nichts, ich habe Zeit.
    Sie nahm seine Nummer, sie bedankte sich, sie sagte, das ist wirklich sehr nett.
    Ja dann, sagte er, also, tschüss.
    Nein, warten Sie! Sie haben ja jetzt keine Nummer. Nehmen Sie meine.
    Ach ja, ganz vergessen, sagte er.
    Sie gab ihm die Nummer 199.
    Wollen Sie es sich vielleicht noch einmal überlegen?, sagte sie. Sie müssen doch jetzt sehr lange warten.
    Das macht nichts, sagte er, ich habe frei. Na ja, er lachte, eigentlich bin ich arbeitslos.
    Es war ihm peinlich, es erwähnt zu haben, es war ihm rausgerutscht, wahrscheinlich, weil er es erst Lukas erzählt hatte, seinem besten Freund, sonst niemandem, auch Nina nicht. Es wurde allmählich Zeit, dass er es in der Welt herumposaunte, er konnte genauso gut mit einer Fremden beginnen.
    Ich bin Journalist, sagte er, aber im Augenblick ist es
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