Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
brachen nicht zusammen, wenn man sie verließ. Es war Nina wichtig, dass er in jeder Hinsicht autark war und es blieb, denn zweifellos nahm sie das, was zwischen ihnen seit einem halben Jahr war, nicht besonders ernst.
    Er rief sie an, sie waren ja für heute Abend verabredet. Ihre weiche, sanfte Stimme, die Art, wie sie ihn durch Ironie auf Distanz hielt, sie sagte: Ach, du arbeitest lieber, als dich mit mir zu treffen? Mit wem soll ich denn jetzt ins Kino gehen? So viele Männer kenne ich auch wieder nicht, und heute ist Freitag, und die meisten sind verheiratet.
    Er sagte, es geht leider nicht anders. Er erfand einen Auftrag, log, er müsse einen Text über die neue Generation der Taliban schreiben und ihn übermorgen schon abliefern. Aber danach gehen wir drei Abende hintereinander ins Kino, das verspreche ich dir.
    Mir reicht einmal, sagte sie.
    Ja, ich weiß, sagte er.
    Kommst du nachher noch zu mir, nach dem Arbeiten?
    Wenn es nicht zu spät wird, du möchtest heute bestimmt früh ins Bett, sagte er. Wie war die Pressekonferenz?
    Sie erzählte von der Pressekonferenz, sie arbeitete als Pressesprecherin eines Nahrungsmittelkonzerns. In verschiedenen Produkten waren Keime gefunden worden. Nina hatte viel zu tun, musste fast stündlich neue Pressemitteilungen schreiben, versuchte, der Nahrungsproduktion gegenüber besonders feindlich eingestellte Journalisten im persönlichen Gespräch für sich einzunehmen, nicht für ihre Sache, durchaus für sich als Frau, Journalisten ließen sich am besten durch Nähe bestechen. Nina zitierte ihm einige der hinterlistigen Fragen, die seine Kollegen auf der Pressekonferenz gestellt hatten. Er schwieg dazu, es wäre ungerecht gewesen, Position zu beziehen gegen Kollegen, die ihr Leben damit verbrachten, die Keimverseuchung von Eiern zu recherchieren, und die flammende Kommentare schrieben über die verheerende Wirkung des Fluglärms auf Datschenbesitzer am Müggelsee. Es war ungerecht, ihnen vorzuwerfen, dass sie sich mit Problemen beschäftigten, die Martens nicht mehr ernst nehmen konnte, seit er gesehen hatte, wie ein vierjähriges Mädchen unter den Leichen in einem Massengrab hervorkroch. Die Kollegen lebten eben in einer gewöhnlichen, aber redlichen Welt, in der Keime in Eiern eine große Bedeutung besaßen. Der für Frösche und Brutvögel nachteilige Ausbau einer Autobahn oder die dubiose Spesenabrechnung eines Politikers wurde in ihrer Welt so wichtig, dass die Tasten in den Redaktionen deswegen Tag und Nacht klapperten. Spesenrechnung: Leitartikel. Spesenrechnung: Kommentar. Spesenrechnung: Neue Enthüllungen. Von dem Mädchen war zuerst nur der Arm zu sehen gewesen, ein spindeldürrer, zerbrechlicher Kinderarm, der sich zwischen den größeren, leblosen Armen bewegt hatte wie ein Würmchen im Gewühl der Arme, Beine, Leiber der Leichen, auf die man schon Kalk gestreut hatte. Ein kaum wahrnehmbares Lebenszeichen in diesem Totenmeer, ein Bagger senkte bereits die Schaufel, um das Grab zuzuschütten. Stop it! Stop it!, rief Carlsen, der Fotograf, der Martens damals begleitete. Er rannte auf die Soldaten zu, die den Befehl hatten, das Grab zu schließen, er verlor die Kamera, stolperte und stürzte hin und schrie: Stop! There’s a child! A child! It’s alive!
    Aber Vogt war nett, sagte Nina, ich soll dir übrigens von ihm einen Gruß ausrichten.
    Was?, fragte Martens.
    Vogt, vom Wochenspiegel, sagte sie, den kennst du doch. Er hat mich nach der Pressekonferenz angesprochen. Weil wir ja einen gemeinsamen Bekannten hätten – dich. Er sagte, ihr hättet mal zusammen Urlaub gemacht, in Südfrankreich.
    Ach das, ja, sagte Martens, er dachte, wenn Carlsen nicht reagiert hätte, wäre das Mädchen gestorben. Ich hätte auch reagiert, aber zu spät, ich war … ich weiß nicht … Er hatte sich einfach nicht rühren können.
    Woher weiß Vogt das eigentlich?, fragte Nina. Das mit uns? Er sagte, ihr hättet euch zuletzt vor zwei Jahren gesehen. Deswegen dachte ich, dass er es wahrscheinlich nicht von dir weiß?
    Ja, doch, ich glaube, wir haben mal telefoniert, sagte Martens. Aber jetzt muss ich gehen.
    Gehen? Wohin?
    An den Schreibtisch, sagte er.
    Sinan im Zimmer
    Fluglärm war relevant.
    Martens fuhr in die Zossener Straße.
    Die Kollegen, die Artikel gegen den Fluglärm schrieben, taten das Ihre, um die Welt ruhiger zu machen oder gerechter, was auch immer. Man tat sich keinen Gefallen, wenn man das gering schätzte, und vor allem nicht, wenn man andererseits die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher