Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
Omar der Anführer, und als er sah, dass Miriam und Martens sich in den Armen hielten, duldete er es nicht. Er ließ Miriam wegführen.
    Dilawar stand im Schneegestöber und blickte in die Ferne.
    Vor Einbruch der Dunkelheit aßen sie Nan, es war verkohlt, Yousef hatte beim Backen nicht aufgepasst. Aber das Hähnchenfleisch, das er in einem Topf über dem offenen Feuer vor den zwei Hütten gekocht hatte, schmeckte gut. Nur Ehsanullah griff nicht zu, er zitterte in seinen Wolldecken und starrte ins Feuer. Wenn jemand etwas zu ihm sagte, antwortete er nicht, er sprach nur noch mit selbst, manchmal murmelte er die halbe Nacht. Khyber hielt ihm ein Stück Fleisch hin, das besonders zarte vom Schenkel, und als Esanullah nicht reagierte, drückte er es ihm an die Lippen. Ehsanullahs Mund öffnete sich, Khyber steckte das Fleisch hinein, und nun kaute Ehsanullah lange, mit seinen knöchernen Händen hielt er sich die Decke über dem Hals zu. Martens wusste nicht, ob Miriam etwas zu essen bekommen hatte, falls nicht, war es nicht so schlimm. Sie hatte bestimmt gestern noch genügend gegessen und all die Wochen zuvor in Berlin. Er sah keinen Grund, sich darum zu kümmern. Einen Tag lang nichts essen, was war das schon. Er konnte jetzt beim Pissen seinen Penis sehen, seine Bauchwölbung, die vor vier Monaten noch den Blick darauf verstellt hatte, war in sich zusammengefallen. Vor ein paar Wochen hatte er sich von Omar ein Messer erbetteln müssen, um ein neues Loch in seinen Gürtel zu stechen.
    In der Nacht schliefen sie alle in der einen Hütte und Miriam in der anderen. Es störte Martens, dass sie eine Hütte für sich allein hatte, während er und die anderen Körper an Körper zusammengepfercht liegen mussten. Miriam hatte doch all die Wochen, in denen er auf Stein und Erde hatte schlafen müssen, in einem weichen Bett gelegen. Es wäre ihr zuzumuten gewesen, diese eine Nacht im Freien zu schlafen. Ihn hielten nicht Mirwais’ Füße wach, die gegen sein Schienbein stießen, nicht Dilawars Husten und Ehsanullahs Gemurmel, sondern sein tierischer Groll darüber, dass Miriam sich ausstrecken konnte und er nicht. In seinem Nacken spürte er Yousefs Atem, Yousef, der sich an ihm rieb – im Gedränge konnte er es tun, ohne sich verdächtig zu machen. Yousefs unterdrücktes Grunzen war unerträglich, Martens rammte ihm den Ellbogen in die Rippen, und nun veränderte sich das Grunzen von Lust zu Schmerz.
    Am nächsten Morgen sah er Miriam wieder. Sie war vermummt in den Anorak und den schwarzen Tschador, den sie darunter trug. Miriams Augen über dem Saum des Schleiers, und andererseits die Gesichter der Männer, die sich zum Abschied versammelt hatten. Es war ein Abschied, und Martens ging es zu schnell.
    Er war noch nicht so weit.
    Vier Monate lang war er mit diesen Männern durch die Berge gezogen, man konnte nicht in einem einzigen Moment Abschied nehmen von dem, was man zu überwinden gelernt hatte. Wenn er jetzt ging, ließ er das Erlernte zurück. Er hatte gelernt, Kälte zu ertragen, mit in kalter Nacht steif gewordenen Gelenken bei Tag stundenlang über lose Steine zu marschieren, ohne die Schmerzen zu zählen, die Schmerzen im Knie, die Schmerzen in der Hüfte. Er hatte gelernt, überall und bei jedem Wetter seine Notdurft zu verrichten, er brauchte keine Toiletten mehr, und es war ihm egal geworden, dass ihm jemand dabei zuschaute. Er hatte gelernt, ein Leben unter Menschen zu führen, die ihm nichts von sich mitteilten. Er hatte gelernt, ohne Bach zu leben und ohne Rilke, das waren Fähigkeiten. Er hatte gelernt, im Gehen zu onanieren, ohne dass die anderen es merkten. Diese Fähigkeiten, die er unter solchen Mühen erworben hatte, waren aber an diese Männer gebunden, an dieses Leben hier mit ihnen, sie galten nichts außerhalb dieser Berge. Jetzt zu gehen bedeutete, dass alles für die Katz gewesen war.
    Miriams Augen, die ihn zurück nach Berlin riefen mit dem Versprechen auf einen Stuhl, einen weiß gedeckten Tisch, eine Matratze, Roomservice und Housekeeping. Zwei Kissen, eine Daunendecke, ein Rochenflügel mit mariniertem Oktopus im Hartmanns oder auch nur die U-Bahn, die Fortbewegung im Sitzen. Danach hatte er sich oft gesehnt, aber jetzt schien es ihm ein Tausch zu sein, bei dem man nur verlieren konnte: Fähigkeiten gegen Komfort.
    Aber letztlich musste er einfach gehen, und es war besser, es schnell zu tun.
    Martens hob die Hand zum Gruß und ging. Er rutschte auf einem Stein aus und stürzte. Dass ihm
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher