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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind
Autoren: John Hart
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sie herein. Ihr verzweifelter Blick sackte in sich zusammen, die Hand fiel herunter, und sie sank zurück.
    Johnny ließ ihr ein paar Sekunden Zeit, aber sie öffnete die Augen nicht wieder. »Alles okay?«, fragte er schließlich.
    »Schlecht geträumt.«
    »Da ist Kaffee. Möchtest du Frühstück ?«
    »Verdammt.« Sie warf die Bettdecke zurück, stand auf und ging hinaus, ohne sich umzusehen. Johnny hörte, wie die Badezimmertür zuschlug. Er ging hinaus und setzte sich auf die Veranda. Fünf Minuten später hielt der Schulbus am unbefestigten Straßenrand. Johnny stand nicht auf. Er rührte sich überhaupt nicht. Nach einem kurzen Augenblick fuhr der Bus weiter.
    Es dauerte fast eine Stunde, bis seine Mutter sich angezogen hatte und zu ihm auf die Veranda kam. Sie setzte sich neben ihn und schlang die dünnen Arme um die Knie. Ihr Lächeln scheiterte auf der ganzen Linie, und Johnny dachte daran, wie es früher ein ganzes Zimmer erhellt hatte.
    »Es tut mir leid«, sagte sie und stieß ihn mit der Schulter an. Johnny starrte die Straße entlang. Sie stieß ihn noch einmal an. »Es tut mir leid. Verstehst du ... ich entschuldige mich.«
    Er wusste nicht, was er sagen sollte, konnte ihr nicht erklären, was für ein Gefühl es war zu wissen, dass es ihr wehtat, ihn anzusehen. Er zuckte die Achseln. »Ist okay.«
    Er spürte, dass sie nach den richtigen Worten suchte. Auch das scheiterte. »Du hast den Bus verpasst«, stellte sie fest.
    »Macht nichts.«
    »Für die Schule macht es schon was.«
    »Ich habe tadellose Noten. Niemanden interessiert es, ob ich da bin oder nicht.«
    »Gehst du noch zum Schulpsychologen?« Er musterte sie unnachsichtig. »Seit sechs Monaten nicht mehr.«
    »Oh.«
    Johnny schaute wieder die Straße hinauf und spürte, dass seine Mutter ihn beobachtete. Sie hatte immer alles gewusst. Sie hatten miteinander geredet. Als sie jetzt sprach, hatte ihre Stimme einen scharfen Unterton. »Er kommt nicht zurück.«
    Johnny sah seine Mutter an. »Was?«
    »Du starrst die Straße hinauf. Das tust du dauernd, als ob du damit rechnest, dass er gleich da oben über die Höhe kommt.« Johnny öffnete den Mund, aber sie redete über ihn hinweg. »Das wird nicht passieren.«
    »Das weißt du nicht.«
    »Ich versuche nur —«
    »Das weißt du nicht!«
    Johnny war auf den Beinen, ohne sich zu erinnerte, dass er aufgesprungen war. Zum zweiten Mal an diesem Morgen ballte er die Fäuste, und etwas Heißes dehnte sich in seiner Brust. Seine Mutter lehnte sich zurück, die Arme noch um die Knie geschlungen. Das Licht in ihren Augen erlosch, und Johnny wusste, was jetzt kam.
    Sie streckte die Hand aus, aber nicht so weit, dass sie ihn berührte.
    »Er hat uns verlassen, Johnny. Es ist nicht deine Schuld.«
    Sie stand auf. Ihr Mund wurde weich, und ihr Gesicht verfiel in einen Ausdruck von gequältem Verständnis, mit dem Erwachsene ein Kind ansahen, das nicht genau begriff, wie die Welt funktionierte. Aber Johnny hatte es begriffen. Er kannte diesen Blick und konnte ihn nicht ausstehen.
    »Du hättest niemals sagen dürfen, was du gesagt hast.«
    »Johnny ...«
    »Es war nicht seine Schuld, dass sie entführt wurde. Das hättest du niemals sagen dürfen.« Sie tat einen Schritt auf ihn zu. Johnny ignorierte es. »Er ist deinetwegen weggegangen.«
    Sie blieb wie angewurzelt stehen, und Eis klirrte in ihrer Stimme. Das verständnisvolle Kräuseln verschwand von ihren Lippen. »Es war seine Schuld«, sagte sie. »Seine und niemandes sonst. Jetzt ist sie fort, und ich habe nichts mehr.«
    Johnny spürte, wie tief unten in seinen Waden ein Zittern begann. Ein paar Augenblicke später zitterte er am ganzen Leib. Der Streit war alt und riss sie beide auseinander.
    Sie richtete sich auf und wandte sich ab. »Du stellst dich immer auf seine Seite«, sagte sie. Dann war sie weg, im Haus, hinaus aus der Welt, in der ihr letztes Kind seinen Platz hatte.
    Johnny starrte die ausgebleichte Tür und dann seine Hände an. Sie zitterten, aber er schluckte seine Erregung hinunter. Er setzte sich wieder hin und sah zu, wie der Wind den Staub am Straßenrand entlangwehte. Er dachte an das, was seine Mutter gesagt hatte, und spähte wieder zur Anhöhe hinauf. Der Hügel war nicht schön; am Rand eines struppigen Waldes standen Reihen kleiner Häuser mit ungepflasterten Einfahrten, Telefonleitungen schlangen sich in Bögen von Mast zu Mast und sahen vor dem jungen Himmel besonders schwarz aus. Der Hügel hatte nichts Außergewöhnliches
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