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Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Christiane Fux
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Leiche, des is genug für a Menschenleben!«, hatte sie in ihrem bayrisch gefärbten Dialekt verkündet, der sich auch nach einem halben Jahrhundert in der Hansestadt nicht abgeschliffen hatte. Theo, der damals erst vor Kurzem das Geschäft seines verstorbenen Vaters übernommen hatte, war entsetzt gewesen.
    »Mach dir mal keine Gedanken, Bub«, hatte Fräulein Huber nur gesagt und ihm mütterlich die Wange getätschelt.
    Theo erinnerte sich noch gut an die erste Begegnung mit May. Am Tag nach ihrer schockierenden Ankündigung, das Institut verlassen zu wollen, hatte Fräulein Huber mit einem zarten, schwarzhaarigen Mädchen vor der Tür gestanden, das ein schlafendes Kind auf dem Arm trug – May und Lilly. »Das Maderl kann gleich heute anfangen«, hatte die Huber zufrieden gesagt. Zweifelnd hatte Theo auf das zierliche Persönchen herabgeblickt. Sie sah wie sechzehn aus – höchstens.
    »Und außerdem hat sie einen Abschluss als Thanatopraktikerin«, hatte Fräulein Huber triumphiert. Diese Spezies der Bestatter war in Deutschland, anders als in den USA und England, äußerst rar. Thanatopraktiker beherrschten nicht nur das äußere Herrichten der Toten, sie konnten sie auch für eine Aufbahrung vorbereiten und notfalls sogar einbalsamieren.
    »Examiniert in London«, hatte May hinzugefügt und ihn herausfordernd angestarrt.
    Auch ohne diesen Trumpf hätte Theo der geballten Entschlossenheit der beiden Frauen nichts entgegenzusetzen gehabt. Zum Glück. May gelang es, auch dem erbarmungswürdigsten Toten ein friedvolles Aussehen zu verleihen, sodass sich die Angehörigen verabschieden konnten – ein Ritual, das in der Hansestadt eher unüblich war, das den Hinterbliebenen vom Bestattungsinstitut Matthies aber ans Herz gelegt wurde. So kratzbürstig sich May oft den Lebenden gegenüber gebärdete, so sanft war sie zu den Toten.
    »Wie soll man denn die Toten gehen lassen, wenn man sich ned verabschieden hat kinna?«, hatte auch Fräulein Huber die feste Überzeugung von Theos Vater in eigene Worte gefasst.
    »Du sollst so einen Mann zurückrufen«, teilte Lilly Theo gnädig mit. »Elfzwanzigzwanzigfünffünfachtacht«, rasselte sie herunter. Sie hatte ein phänomenales Gedächtnis.
    »Lilly, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du keine Telefonate entgegennehmen sollst?«
    »Andauernd«, antwortete Lilly sachlich.
    Theo seufzte. »Und, wie hieß der Mann?«
    »Hab ich nicht verstanden.«
    Kopfschüttelnd ging Theo in sein Büro, um den unbekannten Menschen zurückzurufen.
    »Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Theo zweieinhalb Stunden später zu dem Mann vom Telefon. Er stellte einmal mehr fest, wie stark sein abgelegter und sein neuer Beruf sich mitunter glichen: eine ungewöhnliche Karriere vom Chirurgen zum Bestatter. Der Mann, mit dem er vorhin telefoniert hatte, hieß Erik Florin und entpuppte sich als leicht übergewichtiger Herr Anfang sechzig.
    »Es handelt sich um meine Mutter«, sagte er und presste die feuchten Handflächen auf die dicklichen Schenkel. Runde Wangen, volle Lippen, babyblaue Augen hinter Brillengläsern, ergraute Locken, registrierte Theo. Der Mann sah aus wie ein trauriger, überalterter Raffael-Engel.
    Auch Florin studierte sein Gegenüber. Einen Bestatter hatte er sich anders vorgestellt. Älter auf jeden Fall, mit gelichtetem Haar und Gesichtszügen, die der stete Umgang mit Tod und Trauer geprägt hatte. Einer, der vielleicht sogar ein bisschen unheimlich wirkte. Der jungenhafte Mann von Mitte 30, der hier vor ihm saß, hatte mit diesem Bild rein gar nichts zu tun. Theo trug sein dunkles Haar aus der Stirn gebürstet. Gesicht und Nase waren schmal, die äußeren Augenwinkel lagen etwas tiefer als die inneren, was seinem Blick etwas Melancholisches gab. Sein Lächeln gewann durch die leicht schiefen Zähne zusätzlich an Charme.
    Vermutlich ein Frauenschwarm, dachte Erik Florin nüchtern, der den Schmerz, nie ein solcher gewesen zu sein, auch mit über sechzig noch nicht ganz verwunden hatte. Theo Matthies war kaum größer als Florins 179 Zentimeter, gewann aber durch seinen schmalen Körperbau optisch an Größe. Angetan mit dunklen Jeans und (inzwischen getrocknetem) Rollkragenpullover hätte Florin ihn in einem Café eher für einen Universitätsdozenten gehalten.
    Theo reichte seinem Kunden eine Tasse Friesentee, ein Ritual, das er – wie das Haus und dessen Einrichtung – von seinem Vater übernommen hatte. Mit Sahne und »Kluntjes«, den dicken braunen Kandisbrocken, war das
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